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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens
Autoren: Paulus Hochgatterer
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biegt in die Abt Reginald ein. Die eingeschossigen Siedlungshäuser. Schmiedeeiserne Zäune, die so alt sind wie er, cremefarbene Außenjalousien, in den Vorgärten Buchsbaum und Säulenthujen. Am Haus des Steuerberaters der Bewegungsmelder, der auf eine viel zu große Distanz eingestellt ist und die Lampe an der Eingangstür aufleuchten lässt, sooft jemand vorübergeht. Das Schild, zirka einen Quadratmeter groß, Goldschrift hinter dickem Acrylglas: ›Magister Norbert Kossnik, gerichtlich beeideter Steuerberater und Wirtschaftstreuhänder‹. Treuhänder: Ein Gauner, der Finanzbeamte besticht und seine Kunden erpresst, das ist die Wahrheit. Der dann dasteht im Lodengilet, die schwer versilberte Uhrkette quer über den Wanst, Dreitagesbart, genagelte Schuhe und die Lesebrille an der Kordel. Knall ihm eine, denkt er, hau ihm die Faust gegen die Schneidezähne.
    Der Kindergarten, die Volksschule. Fensterbilder, im Garten eine Schneeburg, die Inordnungwelt. Friedegund Mayerhofer, die als Kindergartenleiterin demnächst in Pension gehen wird und in Lea Wirth eine designierte Nachfolgerin hat, die ihr ganzes bisheriges Leben lang von der Angst geplagt wurde, ein Kind könne ihr irgendwo runterfallen. Schneidet die Bäume um und tragt alle mehrstöckigen Gebäude ab! Kinder in die Ebene! So reden manche Väter.
    Am Ende der Straße rechts ab in jene unbenannte Sackgasse, die hinter dem Abstellplatz für den gemeindeeigenen Fuhrpark direkt am Fluss endet. Unter dem Flugdach zwei riesige Schneefräsen, die bei Licht dunkelrot sind, mehrere kleinere Schneepflüge für die Nebenstraßen. Dahinter der Streukieshaufen, hoch wie ein Haus. Der Winter war bis jetzt eine Lachnummer, sagen alle. Aber er kann ja noch kommen.
    Der schmale Verbindungsweg, der die Uferpromenade genau an der Stelle erreicht, an der sie in den Auwald eintaucht. Die Passage, die er immer laut mitsingt: Father of night, Father of day, Father, who taketh the darkness away. Hochstämmige Erlen und Weiden. Gegen den Boden hin sieht er beinahe nichts. An einem frühen Morgen im Oktober ist er hier einem Dachs begegnet. Ein enormes torpedoartiges Tier, das sich unter lautem Schmatzen und Pfauchen ins Gebüsch verzog.
    Er merkt jetzt eindeutig die Wirkung des Laufens, spürt, wie in ihm, ausgehend von den Beinen und den Ohren, dieses Gerüst wächst, das ihn stützt. In Windeseile hat es Ausläufer gebildet, winzige blanke Drahtgeflechte, die sich um seine Nervenbahnen legen. In kurzer Zeit wird er für eine Weile keine Erinnerung daran haben, dass es das andere gibt, den schwarzen Schlund, in dem der Satan sitzt, der alles zu Trümmern zerschlägt. Father of day, Father of night, Father of black, Father of white.
    Er kennt hier jeden Quadratmeter und schließt kurz die Augen. An der Sicherheit seiner Schritte ändert sich nichts. Die wiederkehrende Vorstellung, in einem gigantischen Schneepflug durch die Straßen zu fahren. Zuerst wirft er die geparkten Autos zur Seite, als wären sie Spielzeug, dann reißt er links und rechts eine Schneise in die Außenfassaden der Häuser.
    In weiten Schritten läuft er dahin, stößt sich mit den Ballen kräftig ab. So beginnt Fliegen, er kennt das aus manchen Träumen. Locker geradeaus laufen, sich dazwischen immer wieder abstoßen. Irgendwann einmal verlierst du den Kontakt zum Boden und schwebst zehn, zwanzig Meter weit, dann setzt du wieder auf, in zwei, drei leichten Landeschritten. Es gibt Menschen, die haben überhaupt keine Bodenberührung. Clemens ist zum Beispiel einer dieser Permanentschweber. Wie auf einem Luftkissen gleitet er über Treppen, Schotter, Grashalme, ständig einen Fingerbreit über Grund, im Gesicht dabei diese nach innen gekehrte Arroganz, diese Überheblichkeit von Amts wegen. Irgendwann einmal wird er ihm eine knallen, einfach so, nicht brutal, sondern eine mittelfeste, flach gehaltene Ohrfeige, eher eine kleine politische Kundgebung als ein Gewaltakt. Überhaupt ist das kontrolliert Brachiale eine chronisch vernachlässigte Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher Positionen. Dabei geht es nicht primär um Zerstörung, sondern um dort und da eine Handlung mit muskulärem Nachdruck. Amtsautoritäten gehörten zum Beispiel regelmäßig ein wenig geprügelt, Schuldirektoren, Polizisten, Politiker sowieso, dagegen ließe sich doch nun wirklich nichts sagen. Und Clemens. Mit seinem zurechtgemachten Kinnbart, seinen Zwirnsocken und seinem Siegelring.
    Nach einer Minute zwischen den Bäumen
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