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Die Suche nach dem Regenbogen

Titel: Die Suche nach dem Regenbogen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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könnt Gott zufriedenstellen, Ihr könnt es allen recht machen. Ich weiß, was ich zu tun habe. Aber eine Nacht werden wir dazu brauchen.«
    »Eine Nacht? Solange kann ich sie wohl hinhalten. Aber was meint Ihr mit einer Idee?«
    »Also«, erwiderte ich, »ich brauche Hilfe und eine sehr große Bienenwachskerze und Gips…«
    »Wozu braucht Ihr das alles?«
    »Für einen Betrug, heilige Mutter. Um eine Maske von meinem Gesicht und einen Abguß von meinen Händen zu machen. Könnt Ihr sie davon abhalten, meinen Leichnam anzufassen?«
    »Den eines Pestopfers? Ich glaube schon.« Ich sah, daß die Äbtissin nun auch lächelte. Ich merkte, es gefiel ihr, daß sie mich nicht ausliefern mußte. Sie konnte den Verführer hinters Licht führen und hatte eine wunderbare Geschichte, die sie der Herzogin bei deren nächstem Besuch erzählen würde. Wir wußten beide, wieviel Herzogin Marguerite für eine gute Geschichte übrig hatte, und diese war gewiß eine wohltuende Spende wert. Wir sahen uns an, die Äbtissin und ich, wir verstanden uns.
    »Gut, fangt sofort an«, sagte sie, denn sie war eine Frau, die zu befehlen gewohnt war.

    Wir arbeiteten fast die ganze Nacht durch und warteten nur noch auf den neuen Morgen, damit ich die Bemalung fertigstellen konnte. Dann zog ich ein Novizinnenhabit an, und meine Kleider stopften wir mit Stroh aus. Die Gipsabgüsse meiner gekreuzten Hände und meines Gesichts waren gleich beim ersten Mal hervorragend gelungen.
    »Wo habt Ihr das gelernt?« fragte die Äbtissin, als sie uns abends bei schwindendem Tageslicht bei der Arbeit zusah.
    »Maler machen immerzu Abgüsse – von Gliedmaßen, von Sachen, die sie malen müssen. Sonst bekommt man die Schatten nicht richtig hin, denn niemand sitzt so lange still, bis ein Ellenbogen gelungen ist.«
    »Hmm. Das leuchtet mir ein. Ich merke schon, die neue Kunstrichtung macht es sich nicht leicht. Obschon mir die alte lieber ist. Alle Gesichter sehen gleich aus, und dazu weiter nichts als Hände, Füße und Faltenwürfe. Und Heiligenscheine. Mich erbaut ein guter Heiligenschein. Diese neumodische Nacktheit ist höchst unschicklich. Und dann das kleine Leuchtding, das neuerdings als Heiligenschein gilt, also, viel ist das wirklich nicht.«
    »Oh, da stimme ich Euch aus vollem Herzen zu«, sagte ich, während ich das geschmolzene Wachs färbte und in die Gußformen füllte.
    »Was für eine Farbe nehmt Ihr da? Menschen sind doch rosig.«
    »Lebendige Menschen. Tote sind bläulichgrau. Ich male noch ein paar schreckliche Schwären auf, und dann sind wir fertig. Ich möchte auf meiner Totenbahre nicht zu hübsch aussehen.«
    Die Äbtissin lachte. »Die meisten Menschen können sich das nicht aussuchen«, sagte sie.
    Am Morgen läuteten sie die Totenglocke und öffneten alle Fenster in der Kirche und dazu das Tor, so daß man den Gesang vor der Pforte hören konnte. Ich hatte soeben ein paar grausliche offene Schwären fertiggestellt, als sich die Äbtissin zu einer letzten Überprüfung einfand.
    »Prächtig«, sagte sie. »Aber woher habt Ihr das Haar?«
    »Da, seht«, sagte ich und hob einen Zipfel meiner Novizinnenhaube. »Es ist mein eigenes.« Mein Kopf sah aus wie ein kurzgeschnittener rotlockiger Jungenschopf, aber in einem Fall wie diesem war ich willens, für einen möglichst echten Eindruck alles, wirklich alles zu opfern. Sogar Wimpern hatte ich mir abgeschnitten und sie dem Wachsabbild angeklebt.
    »Nein, wie viele Farben Ihr gebraucht habt«, sagte die Äbtissin. »Sogar noch mehr als für das Abbild eines Lebenden, oder?«
    »O nein, Ihr würdet überrascht sein, wie viele Farben ich für ein menschliches Gesicht brauche. Man beginnt mit der Untermalung, dann trägt man nach und nach die anderen Farben auf, damit das Gesicht nicht flach, sondern rund wirkt.«
    »Warum beginnen die Maler bei Heiligen immer mit Grün?«
    »Das ist Grüne Erde. Man fängt mit einem mittleren Ton an und baut weiter darauf auf, wird entweder heller oder dunkler. Bei Miniaturen beginne ich mit einer Mischung aus Titanweiß und Mennige, zuweilen auch noch mit einer Spur Massicot. Darauf baue ich dann auf – bis hin zu einem hellen Gelb oder einem fast weißen Rosa für Glanzlichter –, und dann werde ich durch Beimischung von Blau wieder dunkler. Schwarz macht trübe Schatten.«
    »Dann habt Ihr also fast sämtliche Farben verwendet, ehe Ihr überhaupt mit den Gewändern anfangt«, stellte sie fest.
    »O ja, im menschlichen Gesicht sind sämtliche Farben
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