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Die Stunde des Raben

Die Stunde des Raben

Titel: Die Stunde des Raben
Autoren: Boris Pfeiffer
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auf die Kuppe des Hügels, an dessen Fuß ihre Hütte stand. Oben angekommen ging sie weiter. Der Hügel war von dichtem Heidekraut bedeckt. Von hier oben hatte man einen guten Überblick über die wachsende Stadt. Mehrere kleine Seen lagen in der Nähe.
    An einer Stelle, die sich in nichts von der Umgebung unterschied, blieb die jüngere Tochter Boudiccas stehen und hob ihren Stab mit beiden Händen in die Höhe.
    Aus der Luft näherte sich ein weißer Rabe. Er zog hoch über dem Hügel und dem Kopf der Königstochter einen Kreis. Dann stieß er einen einsamen Ruf aus und stieß auf den Hügel herab. Mit ausgebreiteten Flügeln landete er auf dem emporgereckten Stab. Der Rabe legte die Flügel an und verharrte.
    Noch nie hatte Rufus einen wilden Vogel gesehen, der sich einem Menschen so furchtlos näherte.
    »Mutter«, sagte Aili. »Die Menschen haben dich nicht vergessen. Aber die Rotschöpfe sind zurückgekehrt und suchen dein Grab. Sie werden es niemals finden, nach dem, was ich heute tun werde. Ich tue es auf Anweisung Myrddins, der mir eine Botschaft geschickt hat. Er lebt immer noch in den Wäldern und wacht über Brae und ihre Kinder, die nach Hause zurückgekehrt sind. Es ist mein letzter Besuch an deinem Grab, Mutter. Danach werden Bäume um dich sein. Auch ich werde Londinium verlassen und mich auf Wanderschaft begeben. Lebe wohl!«
    Mit diesen Worten hob Aili den Stab hoch in die Luft. Der weiße Rabe flog auf und stieg wieder in den Himmel. Dann stieß Aili den Stab dreimal kräftig auf den Erdboden. Im nächsten Moment spross dort, wo sie ihn hingestoßen hatte, ein junger Stechpalmenbusch empor 4 .
    Die Königstochter nahm ihren Stab und machte sich auf den Weg.
    Wieder verging die Flut und erneuerte sich.
    Die Lehrlinge befanden sich immer noch auf dem Hügel. Aber es schien, als wären Hunderte, wenn nicht mehr Jahre vergangen. Inmitten der Heide über den Seen gingen viele Menschen spazieren, und aus dem Stechpalmenbusch war ein mächtiges Gestrüpp geworden, in dessen Mitte sich ein über zehn Meter hoher Stechpalmenbaum erhob.
    In seinen Ästen saß ein weißer Rabe und schaute auf die Lehrlinge herab.
    Dann schwand die Flut zum letzten Mal.
     
    Im selben Augenblick standen die Lehrlinge wieder in der Akademie. Der Dogenhof unter ihnen war verlassen und der Flutmarkt abgebaut. Kein Laut drang zu ihnen hinauf.
    »Mann«, murmelte No. »Der Stab! Es ist der Stab! Er ist das erste Zepter einer britischen Königin. Und als Aili es auf den Boden gestoßen hat, war das seine Geburtsstunde …«
    Im selben Moment begann der Boden unter ihren Füßen zu beben. Sofort darauf erfüllte ein leises Brausen die Luft. Es klang wie ein fernes Gewitter, durchsetzt mit Donnerschlägen. Dann schob sich ein Prasseln darüber, als würde es anfangen zu regnen. Im nächsten Moment erfüllte das Geräusch eines heftigen Platzregens den gesamten Raum. Nur dass kein einziger Tropfen Wasser fiel.
    Doch statt des Holzstabes tauchte vor ihnen die Hütte Boudiccas in Londinium auf. So plötzlich, dass No heftig zusammenfuhr.
    Entgeistert sah er sie an.
    »Aber«, stieß er hervor »Die Hütte! Sie … Warum denn die ganze Hütte?«
    Immer noch völlig verblüfft ging er hinein. Sie sah genauso aus, wie die Lehrlinge sie in der Flut gesehen hatten. Nur lagen keine Äpfel mehr auf dem Tisch und im Kamin brannte kein Feuer.
    An der Wand hing der helle Stab mit dem geschnitzten Raben als Knauf.
    »Mann«, sagte Filine, die No zusammen mit Rufus gefolgt war. »Es ist wirklich das ganze Haus und nicht alleine das Holzzepter! Das ist ja dein viel beschworener Hammer, No!«
    »Es ist ein Artefakt, das sich zeigen wollte, No«, ertönte hinter ihnen Meister Morleys Stimme. Der Meister war unbemerkt zu ihnen getreten. »Ihr habt offenbar seine Geschichte und ein bisschen mehr verstanden. Welche Bedeutung hat denn das Haus für dieses Holzzepter, wie ihr es nennt?«
    »Es ist sozusagen das erste Königsschloss in London«, stammelte No. »Das Schloss der ersten englischen Königin und der zweiten eigentlich auch, wissen Sie?!«
    Meister Morley nickte ernst. »Lehrlinge der Akademie«, sagte er dann. »Schaut in eure Beutel, und erklärt, ob diejenigen unter euch, deren Fragmente dank der Kräfte der Akademie und eurer Forschungen ihr Artefakt gerufen und ins Heute gefördert haben, das erschienene Artefakt erkennen?«
    Rufus, der immer noch dicht am Eingang der Hütte stand, öffnete seinen braunen Hirschlederbeutel. Die dunkelblaue
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