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Die Stunde Der Toechter

Titel: Die Stunde Der Toechter
Autoren: Michael Herzig
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heraus. Johanna erwiderte mit dem Stinkefinger.
    »Du bist schön mit Sarkasmus in den Augen und dem Fiebermesser im Mund.«
    Um ein Haar hätte Johanna das Thermometer zwischen ihren Lippen verschluckt. Sie spuckte es auf die Bettdecke und schaute die Frau an, die ihr gegenüber in der hintersten Zimmerecke saß. Grüne Katzenaugen. Rote, nach hinten gekämmte Haare. Dunkles Polo. Schwarze Hose mit scharfer Bügelfalte. Außergewöhnlich weiße Haut.
    »Und du bist mager.«
    Tamara Stämpfli stand auf. Feine Falten umgaben ihre Augen auf beinahe zärtliche Weise. Die knochigen Wangen waren leicht gerötet. Als sie neben Johannas Bett angekommen war, bückte sie sich und umarmte ihre Schulfreundin. Lange. Sie roch ein wenig nach Asche.
    »Mein herziges Jeanneli! Du hast diese arme kleine Familie in Angst und Schrecken versetzt.«
    Johanna nahm das Thermometer wieder in die Hand und betrachtete den Quecksilberbalken. Fieber hatte sie nicht. Aber immer noch grauenhaftes Kopfweh. Da half Tamaras spöttisches Lächeln wenig. »Mich erschrecken solche Familien auch.«
    Tamara setzte sich auf den Stuhl, auf dem Köbi gesessen hatte. Sie schlug die Beine übereinander. Ihre Zehennägel waren dunkelrot lackiert, die Beine frisch enthaart. Sie trug weiße Ledersandalen mit hohen Absätzen und um die Knöchel geschnürten Bändern. Ihre dunkelblaue Designerhandtasche stellte sie neben den Stuhl.
    »Ich habe deinen Vater getroffen. Er scheint in eine üble Sache verwickelt zu sein.«
    Tamara lächelte noch neckischer. Ihr Gesicht wirkte karger, als es Johanna in Erinnerung hatte. Eine spitzige Nase und fein gezeichnete Lippen, die sich kaum von der blassen Haut abhoben.
    »Pa macht dubiose Geschäfte. Das hält ihn jung.« Tamara schaute aus dem Fenster hinaus über die Stadt. Ihr Gesichtsausdruck wurde eine Spur melancholischer. »Eigentlich lebt er auf den Kapverdischen Inseln. Er hat dort ein junges Mädchen geheiratet. Kaum zwanzig. Und ich habe nun endlich Geschwister! Zwei kaffeebraune Halbbrüderchen.« Sie lachte. Laut und gequält. »Mein Papa ist schon eine spezielle Nummer.«
    Johanna entdeckte feine Härchen an Tamaras Hals. Im Sonnenlicht glitzerten sie silbern. »O mein Papa war eine wunderbare Clown. O mein Papa war eine große Kinstler.«
    Diesmal war Tamaras Lachen spontan und direkt. Sie stimmte in den Gesang mit ein: »Hoch auf die Seil, wie war er herrlich anzuschau’n! O mein Papa war eine schöne Mann!« Dann wurde sie wieder ernst. »Er hat mich angerufen und von der Entführung erzählt. Er sagt, dass du ihm das Leben gerettet hättest. Deshalb bin ich vorbeigekommen.«
    »Weil ich deinem Vater das Leben gerettet habe?«
    »Weil du meines vielleicht auch retten kannst.« Tamara Stämpflis Stimme klang, als zwänge sie sich von weit weg in das klimatisierte Spitalzimmer hinein. »Mein Großvater wird morgen beerdigt. Die Trauerfeier wird eine riesige Sache. Er war eine Berühmtheit in Burgdorf. Der Käsebaron.« Sie starrte aus dem Fenster hinaus auf den Üetliberg.
    »Ihn kann ich kaum mehr retten.« Johanna versuchte einen lockeren Spruch.
    »Zu retten war er noch nie.« Von Tamaras Nasenflügeln liefen zwei tiefe Falten halbkreisförmig zu den Mundwinkeln. Es sah aus, als hätte sie ein Herz unter der Nase. »Er war ein Tyrann. Zeitlebens. Das wird er auch im Tode sein. Mir graut vor der Predigt.«
    Johanna hatte Tamaras Großvater kaum gekannt. Er hatte sich wenig um seine Enkelin gekümmert. Um deren Schulkollegin aus irgendeinem Emmentaler Kaff erst recht nicht. Ein großer Mann war er gewesen. Physisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Und gefürchtet. Seine Wutausbrüche waren legendär. Wenn Stämpfli in der Welt draußen Geld verliert, donnert es im Eggiwil oben, pflegte Johannas Großmutter zu sagen.
    »Was ist los, Tamara?« Johanna setzte sich auf und knetete das riesige Spitalkissen zurecht. »Du sprichst in Rätseln.« Sie griff sich an den Kopf.
    Die Angesprochene zuckte zusammen. »Es tut mir leid, Jeanne. Ich glaube, ich kriege diesen Kulturunterschied einfach nicht auf die Reihe. Wenn man in New York lebt, ist das alles hier sehr seltsam.«
    »Dein Vater hat gesagt, du seiest in einer Klinik im Berner Oberland. Kann man dort einfach so weg?«
    Nun lächelte Tamara wieder. »Aber Jeanneli. Ich spinne doch nicht. Das ist ein Kuraufenthalt. Ich muss mich erholen vom Großstadtstress.«
    »Aha. Einen New-York-Entzug machst du in den Alpen. Wegen der guten Luft? Wie früher die
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