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Die stumme Bruderschaft

Die stumme Bruderschaft

Titel: Die stumme Bruderschaft
Autoren: Julia Navarro
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einer, nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte man die Leichen von zwei verbrannten Männern gefunden. Die Autopsie hatte ergeben, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt waren und dass sie durch Pistolenkugeln getötet wurden, bevor sie verbrannten. Aber das war noch nicht alles: Sie hatten keine Zunge mehr, man hatte sie ihnen herausgeschnitten. Aber warum? Und wer hatte sie erschossen? Man hatte nie herausgefunden, wer sie waren. Ein ungelöster Fall.
    Weder die Gläubigen noch die Öffentlichkeit wussten, dass das Grabtuch im letzten Jahrhundert lange Zeit außerhalb der Kathedrale aufbewahrt wurde. Vielleicht hatte es deswegen all die Vorfälle heil überstanden.
    Ein Tresor in der Nationalbank hatte dem Tuch als Zufluchtsort gedient, und es hatte den Tresor nur für Ausstellungen und immer unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen verlassen. Dennoch war das Tuch mehrfach ernsthaft in Gefahr gewesen.
    Marco erinnerte sich noch an den Brand vom 12. April 1997. Wie auch nicht, denn an jenem frühen Morgen war er mit seinen Kollegen vom Dezernat für Kunstdelikte bei einem Saufgelage gewesen.
    Er war damals fünfzig Jahre alt und hatte gerade eine schwierige Herzoperation überstanden. Zwei Infarkte und eine lebensgefährliche Operation hatten als Argument ausgereicht, um sich von Giorgio Marchesi, seinem Kardiologen und Schwager, überzeugen zu lassen, dass er sich künftig dem dolce far niente widmen oder sich bestenfalls noch um einen ruhigen Schreibtischjob bewerben sollte, einen von denen, wo man in aller Ruhe Zeitung lesen und später am Vormittag in einer nahe gelegenen Kneipe einen Cappuccino trinken kann.
    Zum Leidwesen seiner Frau hatte er sich für den Schreibtischjob entschieden. Paola hatte darauf bestanden, dass er in den Ruhestand ging. Sie hatte ihn mit dem Argument zu ködern versucht, er habe doch schon alles im Dezernat erreicht – er war der Direktor –, nun, am Höhepunkt seiner Karriere, solle er endlich das Leben genießen. Aber er hatte sich strikt geweigert. Er zog es vor, jeden Tag in ein Büro zu gehen, welcher Art auch immer, statt sich mit fünfzig zum alten Eisen werfen zu lassen. Seinen Posten als Direktor des Dezernats hatte er allerdings aufgegeben und war daraufhin, trotz der Proteste von Paola und Giorgio, mit seinen Kollegen losgezogen, um zu essen und sich zu betrinken. Gemeinsam hatten sie in den letzten zwanzig Jahren täglich vierzehn, fünfzehn Stunden damit zugebracht, die Mafiabanden zu verfolgen, die Kunstwerke über die Grenze verschoben; sie hatten Fälschungen aufgespürt und das riesige Kunstvermögen Italiens geschützt.
    Das Dezernat für Kunstdelikte war eine Spezialabteilung, die dem Innen- und dem Kulturministerium unterstellt war.
    Es bestand aus Polizisten – Carabinieri –, aber auch aus einer stattlichen Anzahl von Archäologen, Historikern, Experten in mittelalterlicher, moderner, sakraler Kunst … Er hatte diesem Dezernat die besten Jahre seines Lebens geopfert.
    Es war ihm nicht leicht gefallen, die Karriereleiter hinaufzuklettern. Sein Vater war Tankwart gewesen, seine Mutter Hausfrau. Sie hatten gerade mal das Nötigste zum Leben. Er konnte nur mit Hilfe von Stipendien studieren und folgte schließlich dem Wunsch seiner Mutter, sich eine sichere Stelle beim Staat zu suchen. Ein Freund seines Vaters, ein Polizist, der immer an der Tankstelle tankte, hatte ihm geholfen, sich bei den Carabinieri zu bewerben. Mit Erfolg, aber Marco war nicht zum Polizisten berufen, und so machte er abends nach der Arbeit einen Magister in Geschichte und bat dann um Versetzung an das Dezernat für Kunstdelikte. Er kannte sich auf beiden Gebieten aus, er war Polizist und Historiker, und nach und nach stieg er mit Fleiß und Glück die Karriereleiter nach oben bis an die Spitze. Wie hatte er es genossen, ganz Italien zu bereisen! Und andere Länder kennen zu lernen!
    An der Universität von Rom hatte er Paola kennen gelernt. Sie studierte mittelalterliche Kunst. Es war Liebe auf den ersten Blick und nach wenigen Monaten heirateten sie. Sie waren fünfundzwanzig Jahre zusammen, hatten zwei Kinder und waren das, was man ein glückliches Paar nennt.
    Paola unterrichtete an der Universität und hatte ihm nie vorgeworfen, dass er so selten zu Hause war. Nur einmal hatte es in ihrem Leben einen ernst zu nehmenden Streit gegeben. Das war, als Marco nach jenem Brand im Frühjahr 1997 aus Turin kam und erklärte, er werde sich nicht pensionieren lassen, Paola solle sich aber keine Sorgen
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