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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin
Autoren: Jeanine Krock
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Raum eine Weite, welche die geschätzten zwölf oder vierzehn Quadratmeter gewiss nicht hergaben. Sie strich beglückt über den abgenutzten Lack einer Kommode. Ihr Zimmer strahlte dank der sparsamen Möblierung und den beiden Sprossenfenstern im Erker, durch die nichts als blauer Himmel und die Wolken zu sehen war, einen antiken Charme aus. Der schlichte Kamin, der offenbar noch beheizt werden konnte, komplettierte das Bild. Estelle fühlte sich an ihr Elternhaus erinnert, in dem es jetzt, da nur noch Selena mit ihrem Freund dort lebte, ziemlich einsam sein musste.
    »Gefällt es dir nicht?« Manon klang besorgt. »Ich finde es auch ein wenig blass, aber sie hat ...« Ihre Fingerspitzen berührten kurz die Lippen, bevor sie schnell weitersprach: »Warte, bis du das hier siehst.« Dann öffnete sie eine Terrassentür und schob Estelle hindurch, die sich unvermittelt in luftiger Höhe wiederfand. Der Blick über die Stadt war wie versprochen fantastisch und die Brise, die ihr Haar zerzauste, schmeckte nach Meer. Wenn sie ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff, konnte Estelle tatsächlich weit hinten, fast am Horizont, einen Streifen Wasser glitzern sehen. Ihre Hände griffen das eiserne Geländer etwas fester und sie beugte sich vor, um hinabzuschauen. Bestimmt mehr als hundert Meter unter ihr lag der grüne Graben, der so tief war, dass er von Brücken überspannt wurde, um die beiden Stadtteile Edinburghs zu verbinden, deren natürliche Grenze der darin angelegte Park bildete. Schnell richtete sie sich wieder auf.
    «Dort unten ist ein Jahrmarkt, sieh doch!«, sagte sie über die Schulter zu Manon, die kaum mehr als ihre Nasenspitze hinaushielt.
    »Auf keinen Fall! Mir wird schon schlecht, wenn ich jemand anderen so dicht am Geländer stehen sehe. Komm wieder rein, ich zeige dir unsere Küche.«
    Estelle zog die Terrassentür hinter sich zu und drehte sicherheitshalber den Schlüssel um, weil sie ansonsten sofort wieder aufsprang und nicht aus Angst, dass jemand hereinkommen könnte. Dann blickte sie noch einmal durch die Scheiben. Es gab gerade genügend Platz für zwei Stühle und sie fand es schade, dass es offenbar keine gemeinsamen Abende dort draußen geben würde, aber jetzt, wo der Winter vor der Tür stand, dürfte damit sowieso nicht zu rechnen sein. Manon war die einzige Menschenseele, die sie hier kannte und daran würde sich wahrscheinlich nicht einmal bis zum nächsten Sommer etwas ändern. Dabei hatte sie ihr Familiennest verlassen, um genau dies zu tun: neue Leute kennenlernen, frei sein. Es kam ihr vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen.
    Obwohl ihre Tante über beachtliche Kräuterkenntnisse verfügte und neben ganz normalen Büchern in ihrem Laden auch mit, wie sie es nannte, »Hexenwerk« handelte, besaß sie als Sterbliche doch so gut wie keine magischen Fähigkeiten. Estelle dagegen entdeckte schnell ihre außergewöhnliche Gabe, die Gedanken anderer zu lesen, sobald sie diese berührte. Bei Selena zeigte sich dieses Talent nicht, und um sie zu beschützen, begann sie, die Jüngere mental immer mehr von der Außenwelt abzuschirmen. Nuriya, die älteste der drei Schwestern, wollte überhaupt nichts von ihrem Feenerbe hören, denn sie fühlte sich von den unsichtbaren Verwandten nach dem Tod der Eltern verraten und im Stich gelassen. Gleich nach Beendigung der Schule zog sie fort. Selena begann mit der Zeit, sich gegen die Bevormundung aufzulehnen, und als Nuriya wider Erwarten nach Hause zurückkehren wollte, beschloss Estelle ein Studium in Paris zu beginnen. Ihr war klargeworden, dass sie Abstand brauchte, und sie hoffte zudem, in der Ferne ihre seherischen Fähigkeiten, die in letzter Zeit schwer zu kontrollieren gewesen waren, wieder in den Griff zu bekommen. Hier bot sich nun ihre zweite Chance und Estelle betete, dass die entspannte Atmosphäre, die sie bei ihrer Fahrt durch die Stadt zu spüren glaubte, dabei helfen würde. Immerhin besaß sie nun in diesem seltsamen Haus eine wunderbare Rückzugsmöglichkeit und mit Manon so etwas wie einen guten Geist in dunklen Tagen. Sie war überzeugt, dass ihre Schwestern zumindest bei der Vorbereitung des Zimmers ihre Hände im Spiel gehabt hatten. Die Wohnung roch nach frischer Farbe und es schien, als habe erst kürzlich jemand alle Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sonst in alten Häusern zu spüren waren, getilgt und in positive Schwingungen verwandelt. Selena besaß dieses Talent. Allerdings fragte sich Estelle, wie ihre
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