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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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den schwarzen Himmel. Die Zweige der Trauerweide über Lettices Grab bewegten sich sacht im leisen Wind. Der Bach jenseits der Mauer plätscherte gleichmütig dahin, aber Mary erschien er in der Stille, die den lebendigen Bildern ihres Gedächtnisses folgte, lauter und wilder zu rauschen. Die bewegte Melodie ihres bisherigen Lebens klang in ihm, verlor ihre Unebenheiten und Verwirrungen und wurde zu einem Ablauf notwendig aufeinander folgender Ereignisse. Die kleine Mary Askew hatte aus dem Elend ihrer düsteren Kindheit heraus die Hoffnung auf Marmalon getragen, und ihr Lebensweg erschien ihr wie die Verwirklichung dieses Traumes, und die vielen Umwege, Zweifel, Unsicherheiten und Ängste verblaßten, verloren an Bedeutung. Auch die Erinnerung an Menschen verschwamm und die an begangene Sünden, an Momente, in denen sie an Menschen vorübergestürmt war und ihre Empfindungen zu wenig beachtet hatte. Was blieb, war das Ziel, und ihr Ziel war Marmalon gewesen, von Anfang an. Sie war davon überzeugt, daß nichts im Leben zu erreichen war ohne Opfer und daß, könnte sie nur in die Herzen anderer Menschen hineinblicken, überall geheime Opfer zu finden wären und geheime Sünden.
    Mary kauerte nieder, ihre Finger berührten das Unkraut auf dem
Grab ihrer Mutter. Sie konnte kaum etwas erkennen, nur schwach die Umrisse des hellgrauen Grabsteines. Sie dachte noch einmal daran, wie sie als junges Mädchen schweren Herzens London verlassen hatte, als Edward sie an das Krankenbett von Lettice rief, wie sie trotzig kam, traurig und widerwillig und schuldbewußt wegen ihrer Gereiztheit, aber sie kam.
    Charles Mackenzie hatte es einmal zu ihr gesagt: »Nicht deine Zeit wollen wir, Mary, sondern deine Liebe.« Aber, dachte sie, während sie dort auf der Erde kniete, die haben sie doch gehabt. Ich habe geliebt, und ich liebe jetzt. Frederic und Nicolas, Jane, Will, Charles – geliebt habe ich sie alle. Aber sie können Zeit und Liebe nicht auseinanderhalten. Tag und Nacht hätte ich um sie sein sollen, um es ihnen zu beweisen, es ihnen in den schönsten Worten immer neu zu sagen, weil sie das, was ich wirklich geleistet habe, nicht anerkannten.
    Sie wollten nichts wissen von Marmalon, vielleicht deshalb, weil sie die heftige Sehnsucht nach Geborgenheit nicht kannten, die Mary umgetrieben hatte, solange sie denken konnte. Das Schreckgespenst des Armenhauses geisterte durch alle ihre Träume und immer hatte sie gemeint, Jane und Nicolas und Charles das größte Geschenk zu machen, wenn sie ihnen die Sicherheit von Marmalon gäbe, aber es schien, als nähmen sie dies gleichgültig und ohne Gedanken an die schlaflosen Nächte, die sie daran gewandt hatte.
    Wahrscheinlich wird Jane mir bitter vorwerfen, mich nie um sie gekümmert zu haben, dachte sie, sie wird als junge Frau dastehen in Seidenkleidern und mit Brillanten um den Hals, an jedem Finger einen Verehrer aus guter Familie – aber sie wird sagen, ich sei eine gedankenlose, nachlässige Mutter gewesen.
    Sie richtete sich wieder auf. Womöglich war ihre eigene Mutter die einzige gewesen, die ihr Wesen gekannt hatte.
    »Von allen Menschen auf der Welt habe ich unter dir am meisten gelitten«, sagte sie halblaut, »und doch wußtest du, daß du mich ohne Sorge nach London gehen lassen könntest, ich käme zurück, wenn du mich brauchtest. Vielleicht wird Nicolas das eines Tages auch wissen.«
    Mary war so versunken in ihre Gedanken, daß sie erschrocken
seufzte, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Sie fuhr herum und erblickte eine dunkle Gestalt, die auf sie zutrat und eine Laterne schwenkte. Das Licht schien ihr ins Gesicht. Eine vertraute Stimme sagte: »Jesus im Himmel, das ist Mary Askew!«
    »Pater Joshua! Sind Sie es wirklich?«
    Der Priester hob die Laterne vor sein Gesicht. Mary erkannte die sanften grauen Augen, den weichen Mund, über dem noch heute jener eigentümliche Ausdruck von Schmerz lag wie früher, die grauen Haare, die dünner geworden waren, seitdem sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sein Gesicht, faltig und müde, war voller freudiger Überraschung.
    »Ich saß noch in meiner Bibliothek«, erklärte er, »und die ganze Zeit sah ich Ihr helles Kleid durch die Bäume schimmern. Als die Stunden verstrichen, begann ich mir Sorgen zu machen und beschloß, einmal nachzusehen.«
    »Ich habe völlig die Zeit vergessen«, entgegnete Mary, »ich kam, um herauszufinden, was aus meiner Familie geworden ist, und dann blieb ich an diesem Grab stehen und so viele
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