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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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war, schüttelte den Kopf. »Morgen früh komme ich. Dann erzähle ich alles, was ich erlebt habe. Aber jetzt ist es spät, und ich bin sehr müde.«
    »Waren Sie... draußen in Marmalon?«
    »Nein. Und ich werde dort auch nicht hingehen. Ich werde nur wehleidig dabei. Es ist ganz sinnlos, in alten Erinnerungen herumzustochern.
Eigentlich bin ich ohnehin nur gekommen, um zu sehen, was aus meiner Familie geworden ist.«
    »Aber Sie kommen den Erinnerungen doch nicht aus, oder?«
    »Sonst ginge es mir besser. Verzeihen Sie, wenn ich Sie jetzt einfach stehen lasse. Ich komme morgen.«
    Sie reichte ihm die Hand, dann lief sie an ihm vorbei über die unkrautbewachsenen Wege des Friedhofes. Quietschend bewegte sich die Pforte in den Angeln. Mary atmete auf, als sie draußen auf dem gepflasterten Weg stand, der aus dem Dorf hinaus, am Pfarrhaus vorbei nach Fernhill führte. Wie sehr die Todesruhe des Friedhofes sie bedrückt hatte, merkte sie erst jetzt, als sie ihn verlassen hatte. Sie lief die Straße entlang, ohne nach rechts und links zu blicken, ohne auch auf den Weg zu achten, den sie nach all den Jahren immer noch im Schlaf kannte. Die engen Gassen des Dorfes nahmen sie auf, die schiefen, krummen Häuserfronten schlossen sich eng um sie. Der faulige Gestank des Abfalls in den Gassen schwappte über sie hinweg. Mary lief schneller, plötzlich von einem Gefühl der Übelkeit ergriffen. Seit sechs Jahren kannte sie die weiten Wiesen ihres Marmalon und wußte nun, daß sie einen Ort wie Shadow’s Eyes nie mehr würde ertragen können. Ihr Blick suchte den Himmel, aber die Dachgiebel versperrten die Sicht auf alles, was über ihnen war. Die Fenster der Häuser blieben schwarz, nur manchmal entdeckte Mary ein kleines, flackerndes Licht oder bemerkte einen Schatten, der sich neugierig aus den düsteren Tiefen des Zimmers heranschob, weil ihn die Schritte draußen auf dem Pflaster aufgeschreckt hatten. Marys Schuhe klangen laut; sie waren das einzige Geräusch in dieser drückenden Stille.
    Dieses Dorf ist wie tot, dachte sie voller Grauen, es schläft nicht nur, es ist stumpf und ohne Leben.
    Vor einigen Haustüren hingen Laternen, die sich im sanften Lufthauch rostig quietschend bewegten. Der Schein ihrer Kerzen fiel auf ausgetretene Treppenstufen, auf vernagelte Kellereingänge und höhlenhafte Löcher in den Hauswänden zu ebener Erde. Mary starrte darauf, als könne sie ihren Blick nicht losreißen. Wieder fielen Erinnerungen über sie her. Sie sah das kleine Mädchen Mary, das sich unter diesen Treppen, in den ausgehöhlten Wänden verbarg,
das dort, zwischen dem feuchten Gestein und dem Verwesungsgeruch jahrhundertealten Abfalls kauerte und seinen wunderbaren Träumen von einem besseren Leben nachhing. Lettices schneidende Stimme klang scharf an ihr Ohr, durchtrennte unbarmherzig die Schönheiten ihrer Phantasie, zerrte sie aus Frederics Armen, zwang sie, Marmalon zu verlassen, über Blumenwiesen und sonnenbeschienene Feldwege in die schattigen Gassen zurückzukehren und den Gestank von Armut und Elend erneut zu atmen.
    Mary, die sich in einer erschrockenen Bewegung beide Hände auf die Ohren gepreßt hatte, brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, daß sie vor Lettices Stimme keine Angst mehr haben mußte. Lettice konnte nicht mehr schreien, nie mehr wieder. Und auch Ambrose und Edward waren nicht hier, sie saßen irgendwo auf einem kleinen Bauernhof am Rande des Ortes und ließen sich wahrscheinlich von Edwards Frau schikanieren. Bess hing vermutlich in den Armen eines Mannes, ihres eigenen oder eines fremden, und verschwendete keinen Gedanken an ihre Schwester. Vermutlich würden sie alle nicht einmal kommen, wenn sie wüßten, daß ich hier bin, dachte Mary. Es befreite sie, das zu wissen. Sie sah auf und entdeckte über sich das alte, schiefe Schild mit der Aufschrift Armenhaus .
    Sie war tatsächlich hier stehengeblieben, vor diesem Haus. Einen Moment lang fühlte sie sich versucht, sofort weiterzulaufen, eine unerwartete Neugier ließ sie jedoch bleiben. Mit den Fingern strich sie über die Seide ihres Kleides und spürte das kühle Gold des Armreifes, der auf ihr Handgelenk rutschte. Beides, Seide und Gold, gaben ihr Selbstvertrauen und Kraft. Sie stieß die wurmstichige Tür auf. Sorgfältig raffte sie ihre schönen, gebauschten Röcke und trat ein.
    Die abgestandene Luft vieler Jahre erfüllte den Gang. Es war stockfinster, aber Marys Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Schwach
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