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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon
Autoren: Charlotte Link
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konnte sie den zerschlissenen Teppich auf den Dielen erkennen, der die Klappe verdeckte, durch die man in den Keller gelangen konnte. Der Keller rief allzu grausige Gedanken in ihr wach, rasch ging sie weiter. Als sie in die Küche kam, setzte ein lautes Rascheln ein, sie konnte das Trippeln von tausend
kleinen Füßen vernehmen. Ratten. Natürlich, das ganze Haus war voller Ratten. Schon in ihrer Kindheit hatte es viele davon gegeben, deshalb vermochten diese Tiere ihr keinen Schrecken einzujagen.
    »Zum Glück bin ich nicht zimperlich«, sagte sie halblaut, »Lady Cathleen hätte jetzt gar nicht mehr aufhören können zu schreien!«
    Vorsichtig tappte sie weiter. Dort stand der Küchentisch, daneben ein Stuhl mit drei Beinen. Die meisten Möbel hatten sich wahrscheinlich längst Räuber geholt, die ein verlassenes Haus immer zu ausgedehnten Beutezügen einlud. Mit dem Fuß stieß Mary Gerümpel beiseite. Sie bemühte sich, flach zu atmen, denn irgend etwas in dieser Küche stank entsetzlich — eine tote Ratte vielleicht oder ein liegengebliebenes Stück Fleisch. Nach Lettices Tod hatte es hier eigentlich immer gestunken.
    Mary ging weiter, und tausend Szenen sprangen in ihr Gedächtnis. Diese Küche! Sie sah Ambrose und Edward, wie sie aufeinander losgingen, mit zorngeröteten Gesichtern und gesträubten Haaren, umgeben von dem Biergestank, der jeder Pore ihres Körpers entquoll. Bess stand an der Wand, sie trug das graue Kleid einer Küchenmagd aus Fernhill und sah dem Treiben herablassend zu. Lettice saß auf dem Tisch, sie hatte den Kopf zurückgeworfen, und ihr Haar fiel in dicken Locken ihren Rücken hinab. Sie lachte heftig und hemmungslos, ihr mageres Gesicht verzerrte sich dabei und bekam tiefe Furchen und Falten. Das Lachen stieg heiser und ordinär aus ihrer Kehle, war immer so laut, daß Mary Angst davor bekam. Sie verkroch sich tiefer in die Wandspalte hinter dem Herd, obwohl sie sich an der rauhen Steinwand Arme und Beine blutig schürfte. Sie hoffte, nicht entdeckt zu werden, aber jeden Abend kam der Moment, in dem einer der vier anderen sich ihrer entsann, die Augen durch den Raum gleiten ließ und scharf die Frage stellte: »Wo ist denn unsere Mary?«
    Lettice hielt im Lachen inne.
    »Los, komm aus deiner verrußten Ecke heraus, Mary!« rief sie. »Ehe du völlig verdreckst. Nun mach schon!«
    Mary kroch mühsam hervor. Der Kalkstaub von den unverputzten Wänden brannte in ihren Schürfwunden, aber sie ließ es sich nicht anmerken.

    »Oh, seht nur dieses dreckige, kleine Mädchen!« schrie Lettice, »Herrgott, wie siehst du nur wieder aus?«
    »Und was sie für ein Gesicht macht«, setzte Bess verächtlich hinzu, »ich glaube, die Männer werden eines Tages vor ihr davonlaufen!«
    »Dumm wie sie ist, bestimmt«, meinte Edward. Er streckte die Hand aus und kniff ihr in die Wange, so fest, daß sie meinte, ihr Gesicht springe entzwei. Alle lachten. Das Lachen dröhnte im ganzen Raum, hallte von Decken und Wänden wider, durchbrach die Stille der Nacht und hackte in unbarmherzig schrillen Lauten auf Mary ein. Sie stand mitten in der Küche, gehüllt in Seide, und war doch wieder das kleine Mädchen von einst. Alles um sie herum stank nach Bier und war erfüllt von der vulgären Lustigkeit zweier betrunkener Männer und zweier boshafter Frauen, die sich einen Spaß daraus machten, mit der Dummheit der Männer ein gefallsüchtiges Spiel zu treiben.
    Die Erinnerung war so quälend, daß Mary aufschluchzte.
    »O nein, niemals wieder, niemals wieder!« Ihre Füße rutschten auf etwas Glitschigem aus, sie glitt zu Boden, blieb auf dem harten Holz liegen, zwischen Dreck und Gestank. Die Luft über ihr war voller Stimmen, voll längst vergangener Geschehnisse. Von allen Seiten her kamen sie, als hätten sie sich in dieser Nacht verschworen, das Armenhaus von Shadow’s Eyes noch einmal aufzusuchen und mit ihren körperlosen Seelen zu erfüllen. Lettice und Ambrose, Bess und Edward, Frederic, Nan, die wispernden Stimmen von hundert todgeweihten Armen, sie schlossen sich zu einem bunten Reigen, der über Mary hinwegtanzte, trampelte und stampfte, Wunden aufriß und mit Wonne neue zufügte. Und Mary lag dort, in Staub und Dreck, ihre Finger griffen in fauligen Abfall, ihre Füße berührten einen Berg von Gerümpel. Sie lag dort, fühlte die grausame Nähe der Erinnerungen und versuchte verzweifelt, ihnen zu entkommen. Irgendwo mitten unter diesen tanzenden, häßlich lachenden Gestalten mußte es jemanden
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