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Die Staufer und ihre Zeit

Die Staufer und ihre Zeit

Titel: Die Staufer und ihre Zeit
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
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einzigartig. Gewiss, in Klosterbibliotheken standen die Schriften des römischen Arztes Galen über die Funktion der Körperteile. Doch wer hätte es gewagt, sie um Beobachtungen der menschlichen Libido zu erweitern so wie die Benediktinerin? Das leibfeindliche Mittelalter warnte vor der Lust als teuflischem Laster. Und die Beschreibung des weiblichen Körpers war ganz und gar tabu.
    Hildegard kannte da keine Scham: Nüchtern notierte sie, dass das weibliche Ejakulat im Verhältnis zum männlichen so viel sei »wie ein Bissen im Vergleich zum ganzen Brot«. Die zur Keuschheit verpflichtete Ordensfrau wusste nicht nur,
dass auch Frauen den »Wind der Lust« erleben können, sondern sogar, dass deren Sekret oft »nach dem Genuss« nicht austrete. Es werde »mit dem Monatsflusse ausgeschieden«.
    Der Würzburger Medizinhistoriker Johannes Mayer staunte deshalb beim Studium von Hildegards Schriften nicht schlecht: »Das eigentliche Wunder ist, dass sie nicht als Ketzerin verbrannt wurde.« Ein überraschendes Urteil. Denn in die Geschichte eingegangen ist die Vielschreiberin als Heilige, Heilkundige und Hellseherin.
    Von ihren seherischen Eingebungen kündet ein bibeldickes Werk. Zwei Drittel beschäftigen sich mit den Beziehungen zwischen Gott, dem Menschen, der Welt sowie mit dem großen Gegenspieler, Satan. Die Autodidaktin hat außerdem mehr als 70 liturgische Musikkompositionen hinterlassen. Bis heute bekannt ist die Klosterfrau für ihre heilenden Rezepturen. In ihren biomedizinischen Traktaten beschreibt sie 290 Pflanzen, 153 Tierarten, 25 Mineralien sowie 8 Metalle.
    Für Hildegard hing alles zusammen – der Heilige Geist, der Mensch, die Sterne, Fauna und Flora. Die Benediktinerin schuf eine eigene Kosmologie, »in weiten Teilen im Denken des Mittelalters verhaftet«, sagt Mayer. »Aber sie landete auch geniale Treffer.«
    Die Nonne mit dem Draht zum Jenseits war zugleich eine höchst diesseitige Akteurin. Wohl keine Frau hat je so viel Raum in der Papstkirche eingenommen. Sie predigte sogar – zwar nicht im für das weibliche Geschlecht verbotenen Altarraum, sondern auf Kanzeln draußen vor den Kirchen, zu denen sie reiste. Sektierern las sie da die Leviten, aber auch korrupten Klerikern.
    Sogar Friedrich I. Barbarossa tadelte sie. Unerschrocken schrieb sie – im Namen des Allerhöchsten – an den römisch-deutschen Herrscher, nachdem dieser 1164 einen weiteren Gegenpapst eingesetzt hatte: »Wehe, wehe diesem bösen Tun
der Frevler, die Mich verachten! Das höre, König, wenn du leben willst! Sonst wird Mein Schwert dich durchbohren!«
    Allerdings ist Hildegards Korrespondenz mit Vorsicht zu genießen. Überliefert sind 127 Briefe, an Geistliche, Adlige, Herrscher. Der Anzahl nach wird sie so viele verfasst haben. Aber für die Nachwelt überarbeitete sie ihre Episteln, vertauschte Adressaten, verschmolz Inhalte. »Sie hat bewusste Manipulationen, die ihren Ruhm zu vermehren beabsichtigten, genehmigt oder wenigstens geduldet«, glaubt der belgische Historiker Lieven van Acker, Herausgeber ihrer Briefe. Den Briefwechsel mit Papst Eugen III. etwa hält van Acker für echt – die Briefe an zwei andere Päpste in ihrem Nachlass dagegen für Fälschungen.
    Wer war Hildegard von Bingen wirklich? Die einen halten sie für ein Genie, andere für eine auserwählte Prophetin – manche sehen sie dagegen schlicht als Hochstaplerin. Sie selbst nannte sich »Posaune Gottes«. Dass sie hochintelligent war und, getreu dem Neuen Testament, ihr Licht »auf das Lampengestell« statt unter den Scheffel stellte, steht indes außer Frage. Auf jeden Fall war Hildegards Gott ein Gott der Ratio. Sie reiht sich in die Vordenker des hohen Mittelalters ein, wenn sie in ihrem letzten Visionswerk »Liber divinorum operum« (»Buch der Gotteswerke«) verkündet: »Die Vernunft ist die Wurzel, das tönende Wort erblühet aus ihr.«
    Geboren wurde sie 1098 als zehntes Kind einer adligen Familie, die den Gutshof Bermersheim bei Alzey betrieb. Mit acht Jahren wurde Hildegard gemeinsam mit einem anderen adligen Kind in die Obhut der Nonne Jutta von Sponheim gegeben. Die drei lebten abgeschieden in einer Klause beim benediktinischen Mönchskloster Disibodenberg.
    Alsbald weihte Hildegard ihr Leben dem »Ora, lege et labora«, dem »Bete, lies und arbeite« des heiligen Benedikt. Im Winter legten sich die Nonnen mit Anbruch der Dunkelheit
auf die Strohmatten im Schlafsaal; um Mitternacht wurden sie geweckt. Gegen die strengen Regeln
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