Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Staufer und ihre Zeit

Die Staufer und ihre Zeit

Titel: Die Staufer und ihre Zeit
Autoren: Dietmar Pieper , Annette Großbongardt
Vom Netzwerk:
nie getroffen hatte. Er war es auch, der sie in die Reihe der Mystiker stellte, ein Ruf, der ihr bis heute – zu Unrecht – anhängt.
    Hildegards Visionen hat der britische Neurologe Oliver Sacks als bloße Symptome einer Migräne interpretiert. Sie habe womöglich an einem »Flimmerskotom« gelitten, einer Begleiterscheinung schwerer Kopfschmerzen, die zu Lichthalluzinationen führt. Tatsächlich soll die Heilige von klein auf gekränkelt haben, »so dass sie äußerst selten ihre Füße zum Gehen nutzte«, wie ihr Sekretär, Mönch Volmar, festhielt.
    Volmar kam als einziger Mann mit, als Hildegard ihre nächste Großtat in Angriff nahm: den Bau eines eigenen Frauenklosters auf dem Rupertsberg bei Bingen. Zwar wehrte sich der Abt von Disibodenberg energisch, schließlich drohten mit den Nonnen auch deren Reichtümer dem Kloster zu entgehen. Doch die Mutter von Hildegards Lieblingsnonne Richardis von Stade, eine Markgräfin, setzte sich beim Erzbischof für sie ein – mit Erfolg.
    Die ersten Jahre auf dem Rupertsberg waren hart für die hochwohlgeborenen Nonnen; einige verließen die Gründerin.
Auch Richardis von Stade ging weg, um selbst Äbtissin zu werden. Ein bitterer Moment für Hildegard. Richardis, die ihr beim Schreiben half, bedeutete ihr vielleicht mehr, als erlaubt war: »Schmerz steigt in mir auf«, schreibt sie an die Abtrünnige, er »tötet das große Vertrauen und die Tröstung, die ich in einem Menschen besaß«. Sogar den Papst bekniete sie, ihr Richardis zu lassen; eine Trennung würde die »Tochter« nicht überstehen. Doch diesmal gewann Hildegard nicht. Dabei sollte sie recht behalten: Richardis erkrankte rasch in ihrem neuen Amt und starb.
    Kloster Rupertsberg indes prosperierte. Alle Arbeitsräume waren an Frischwasserleitungen angeschlossen – für damalige Verhältnisse Luxus pur. Die Heilkundige wusste um die Wichtigkeit von Hygiene; Hildegard mahnte zu häufigem Waschen und Zähneputzen.
    Als der belgische Mönch Wibert von Gembloux nach Volmars Tod 1173 dessen Stelle antrat, staunte er über die harmonische Atmosphäre: »Schwestern und Meisterin sind ein Herz und eine Seele. Alles atmet Andacht, Heiligkeit und Frieden. An Werktagen regen sich geschäftig die Hände. Sie sticken, spinnen, weben und nähen vom Morgengrauen bis zum Abendbrot. In Bescheidenheit und Würde waltet die Äbtissin. Sie sucht allen alles zu werden. Obwohl gebeugt von Alter und Krankheit, ist sie unermüdlich.«
    Der Zulauf war bald so groß, dass Hildegard 1165 ein Tochterkloster in Eibingen bauen ließ. Zweimal die Woche setzte die greise Äbtissin mit dem Kahn über den Rhein, um dort Gottesdienste zu feiern. An Sonntagen zeigte sich Hildegards sinnenfrohe Seite. In »bräutlicher Zier« zogen ihre Benediktinerinnen zur Messe, in weißen Schleiern, mit Kränzen geschmückt, an den Fingern Ringe.
    Eine Rebellin blieb die alte Dame bis zuletzt. In ihrem letzten Lebensjahr, 1179, wurde über Rupertsberg die kirchliche
Höchststrafe verhängt, das Interdikt. Die Schwestern durften weder Gottesdienst feiern noch singen, weil Hildegard auf ihrem Friedhof einen Adligen hatte beerdigen lassen, der exkommuniziert worden war. Das Mainzer Domkapitel verlangte, den Leichnam des Ketzers zu exhumieren. Doch die Äbtissin blieb stur. Sie verwischte die Grenzen des Grabs – und erklärte, der Mann sei kurz vor seinem Tod durch einen Priester vom Kirchenbann befreit worden, das Interdikt ergo ungerechtfertigt. Nach langem Ringen gab der Erzbischof nach, nicht ohne die widerspenstige 81-Jährige zu mahnen: Es sei »höchst gefährlich, den Einspruch der Geistlichen zu missachten«.
    Was bleibt vom geistigen Erbe der Äbtissin, die in der katholischen Kirche als Heilige verehrt wird und deren Gebeine in einem neuen Kloster in Eibingen aufbewahrt sind? Hildegards Visionen »bringen im Grunde genommen nichts Neues«, hat schon ihre Biografin Rosel Termolen nüchtern festgestellt; die Geistliche habe altbekannte Kirchenlehre aufgegriffen und sie zu »Bildern von einprägsamer Leuchtkraft«, aber auch »düsterer Unverständlichkeit« verarbeitet.
    Beliebt ist indes heute noch die nach ihr benannte »Hildegard-Medizin«. Sie wurde 1970 von einem österreichischen Arzt erfolgreich herausgebracht; zumindest im Marketing stand der Mann der Namensgeberin nicht nach. Der Würzburger Klostermediziner Mayer entdeckte allerdings frappante Widersprüche zum Original. Kurios sei etwa das propagierte »Hildegard-Fasten«. Im ganzen Werk
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher