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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Mirko Kovac
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deshalb beide leicht berauscht.
    In diesem Kapitel haben die Kräfte des Zufalls fleißig an meinen Sätzen mitgearbeitet. Dabei sind sich verschiedene Welten bedrohlich nahe gekommen. Das kleine Teufelchen Zufall hat sich wieder als Meister versucht, vielleicht, um jene Dinge zusammenzufügen, die uns in die Nähe des Spiels bringen und uns auf diese Weise zeigen, welche Macht das räumliche und zeitliche Zusammentreffen verschiedener Begebenheiten über uns haben können. Aus diesem Grunde scheint es mir legitim, diesen kleinen Bericht mit dem Verweis auf die diabolische Dimension des Zufalls begonnen zu haben. Hin und wieder führen uns Koinzidenzen auf merkwürdiges Terrain, sie machen unsere Gedanken gefügig, indem sie die hauchdünnen Verläufe zwischen Wirklichkeit und Imagination neu vernähen.
    Mit dem Wissen um die Möglichkeit dieses Blicks habe ich den Anfang dieses Kapitels geschrieben. Obwohl ich mir der Gefahr voreiliger Schlussfolgerungen bewusst war, sind am Ende meine Imaginationsnerven mit mir durchgegangen. Ich habe im Hotel die nette Dame an der Rezeption gebeten, mir einen kurzen Blick auf die Liste der eingecheckten Hotelgäste zu gewähren. Ich habe natürlich nach einem bestimmten Namen gesucht. Aber den Namen Blago Turchini habe ich dort nicht finden können.

7
     
    In unserer Familie hat es schon seit jeher Blutschande gegeben. Wann auch immer die Rede auf unseren Stammbaum und auf unsere Herkunft kam, versammelten wir uns um die Älteren. Mein Großvater Mato, darin waren sich alle einig, beherrschte die hohe Kunst des mündlichen Erzählens. Immer wieder wurden über ihn Geschichten verbreitet, die ich begierig in mich aufnahm. Großvaters Mantel aus Schaffell lag über vierzig Jahre in der Chiffoniere. Als man ihn schließlich irgendwann nach draußen trug und in die Sonne legte, fiel er einfach auseinander.
    Sein dritter Sohn, mein Onkel Nikola, an den ich auch keine konkrete Erinnerung habe, kam ein Jahr nach Onkel Blago zur Welt. Danach bekam mein Großvater noch vier Töchter. Das achte und kleinste Kind war ein Junge, es wuchs ohne Vater auf, weil mein Großvater nach Österreich berufen wurde. Das Kind wurde kurz vor seiner Abreise gezeugt, aber später hieß es, es sei ein Bastard und seine Mutter habe sich mit ihrem missgebildeten Schwager eingelassen. Noch in seiner Kindheit richtete die Familie alle ihre Hoffnungen auf Nikola, niemand wusste so recht, warum das eigentlich der Fall war, aber alle gingen davon aus, dass der diabolische Eifer, den er bei jedem Schritt an den Tag legte, in seiner Natur begründet lag und dass es mit dieser irgendetwas Besonderes auf sich hatte. Er aber brach irgendwann einfach die Schule ab und erarbeitete sich einen Ruf als Dieb und Nichtsnutz, der schnell das Messer zog und bereits als Minderjähriger mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Großvater Mato enterbte ihn. »Ich werde es nicht zulassen, dass mein mühsam errungener Besitz von einem unglücklichen Raufbold verplempert wird«, sagte er. »Er bekommt von mir nicht einmal den Dreck unter meinen Nägeln vererbt. Aus dem Testament ist er nun genauso verschwunden wie aus meinem Herzen.«
    Als er sich davonmachte, war Nikola noch sehr jung. Seine Mutter Vukava hat bis zu meiner Geburt an seinem Fortgehen gelitten. Später, wenn sie traurig war, hielt ich oft ihre Hand. Wir hörten sie immer nachts weinen, wenn sie am Fenster stand und immerfort vor sich hin schluchzte. Ich glaube, dass sie sich Hoffnungen gemacht und immer von seiner Rückkehr geträumt hat. Fünf oder sechs Jahre nach seinem Verschwinden schrieb er ihr dann endlich einen Brief aus Amerika, aus Illinois, Chicago, aber seine Worte waren kalt und knapp. Ohnehin hatte er nur geschrieben, um sich für seine Enterbung zu bedanken. »Mein Vater hat mir damals einen großen Gefallen getan«, schrieb er. »Man muss früher oder später ohnehin alle Länder dieser Erde verlassen, in denen das einzig sichere Erbe das eigene Elend ist.«
    Er hatte seinem Brief eine Art Liste beigefügt und sein ganzes Vermögen aufgeführt. Auch eine Fotografie war dabei, auf der ein junger Mann im Nadelstreifen-Anzug zu sehen war, er trug einen Hut auf dem Kopf und hatte ein Tuch in der rechten Jackentasche. Seine weißen Schuhe hatten einen Absatz und erinnerten an Gangsterschuhe aus alten Filmen. Sein ordentlicher Schnauzbart war dünn geschnitten, und er trug einen großen Ring. Hinter ihm sah man ein zweistöckiges Haus und der neuste Cadillac stand
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