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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Carrie Ryan
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was als Nächstes passiert.
    Ein großer, breiter Mann in einer blitzsauberen R ekruteruniform mit roter Schärpe über der Brust stürmt aus dem Wächterhaus und baut sich vor dem jungen Mann auf. Der Mund des R ekruters bewegt sich, der junge Mann schüttelt immerzu den Kopf, mit erhobenen Händen, die Handflächen nach oben gewandt.
    In diesem Moment löst sich eine Gestalt aus der Menge am Rand der Brücke. Es ist meine Schwester. Sie läuft auf den großen R ekruter zu, schlingt ihm die Arme um den Hals. Er windet sich und versucht sie abzuwehren, aber in dem Bruchteil der Sekunde, in dem sie ihn ablenkt, springt der junge Mann auf und stürzt sich auf die Metallwand. Mit zappelnden Füßen hangelt er sich hinauf und rutscht auf der anderen Seite wieder hinab zum Flussufer.
    Chaos bricht aus, einige R ekruter klettern hinter dem Flüchtigen her, während andere von der Brücke aus mit Armbrüsten auf ihn zielen. Um mich herum hechten die Menschen schreiend aus demWeg, aber ich knie noch da und beobachte, wie der junge Mann am Ufer entlangläuft, während der Boden um ihn herum mit Pfeilen gespickt wird.
    »Hab ihn erwischt!«, brüllt einer der R ekruter. Der junge Mann stolpert, ein leuchtend roter Streifen Blut ist auf seinem Arm zu sehen, wo er von einem Pfeil getroffen wurde. Er verliert das Gleichgewicht und rutscht auf den Fluss zu, der unter der Brücke hindurchfließt. Mit einem Klatschen verschwindet er imWasser.
    Alle um mich herum halten den Atem an, während sie darauf warten, dass sein Körper wieder auftaucht. Nur ich nicht. Ich starre das Mädchen an, meine Schwester, die mein Abbild ist . A bigail. Sie hockt an der Stelle, an der eben noch der junge Mann gekniet hat. Ihr Arm ist blutüberströmt, ihr Ärmel ist bei dem Handgemenge zerrissen. Sie presst die Fäuste an die Schläfen. Einer der Hunde schmiegt die Schnauze an ihren Ellenbogen, und sie stützt sich auf ihn . A llem Anschein nach hat sie keine Ahnung, was sie nun tun soll.
    Zwei der R ekruter klatschen die Hände aneinander, als sie an ihr vorbeigehen. Sie hebt den Kopf. Die R ekruter zerren sie auf die Füße und erzählen ihr vermutlich, was passiert ist, denn sie öffnet den Mund, und ich kann sie noch in dem Aufruhr um mich herum vorWut schreien hören. Dieser Laut hallt in meinem Kopf wider, es ist, als wären es meine Stimme, meine Kehle und mein Schmerz.
    Ich will unbedingt, dass sie mich ansieht. Dass sie ihren Kopf dreht und in meine Richtung schaut. In meinen Gedanken flehe ich sie an, sie möge mich sehen – damit sie weiß, dass ich hier bin . A ber sie rührt sich nicht. Ihr Blick weicht nicht von der Stelle vor der hoch aufragenden Metallwand, an der der junge Mann eben noch gestanden hat.
    Unter mir glättet sich die Oberfläche des Flusses. Der Mann taucht nicht auf.

3
    S chließlich verstummt das Sirenengeheul, und die R ekruter befehlen allen, sich zur Durchsuchung in einer R eihe aufzustellen. Mit den Hunden gehen sie von einem Abschnitt zum nächsten und versuchen festzustellen, ob noch jemand von uns anderen hier angesteckt ist.
    Als ich endlich freigelassen werde, herrscht vollkommenes Durcheinander, aber ich kann wieder in die Neverlands zurück. Bis ich allerdings die Brücke hinter mir gelassen habe, ist meine Schwester verschwunden. Ich renne zu derWand, vor der ich sie zuletzt gesehen habe und drücke die Hand auf das kalte, rostnarbige Metall, weil ich sie spüren will.
    In der Nähe hat sich eine Gruppe von R ekrutern um ein kleines Feuer geschart, sie lachen und lassen einenTonkrug kreisen. Ich straffe die Schultern, und als ich näher komme, löst sich ein Mann mit einem dicken weißen Schnurrbart aus der Gruppe und hält mich auf. Mir ist nur zu sehr bewusst, wie sie mich alle anstarren.
    »Was suchst du denn, Schätzchen?« Es klingt wie eine Mischung ausWarnung und strenger Güte.
    »Was ist mit dem Mädchen passiert?« Ich halte das Kinn hoch, das Haar habe ich mir hinter die Ohren gestrichen. Ich fühle mich offen und verletzlich, aber ich muss mir Gewissheit darüber verschaffen, ob er auch sieht, was ich gesehen habe – ob ihm die Ähnlichkeit auffällt, oder ob ich nur glaube, was ich glauben will, nämlich, dass meine Schwester noch lebt, dass ich sie doch nicht imWald habe sterben lassen.
    Aber wie alle anderen wirft er nur einen Blick auf meine Narben und schaut gleich wieder weg – aufsWasser, auf die Brücke, die Mauer und den Boden. Überall hin, nur nicht auf mein Gesicht. Er ist ein
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