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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
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Besitzer geistig weggetreten ist. Dennoch bleibt das Gehirn wachsam und findet keine Ruhe.
    Binnen einer Stunde hatte Jacks Körper sich viele Kilometer vom vorgesehenen Fahrtziel entfernt. Wäre die Strecke hügelig gewesen, hätte der Körper inzwischen zweifellos gebremst und eine Verschnaufpause eingelegt. Doch auf den gleichförmig flachen Straßen dieses Hafenbezirks voller Lagerhäuser und Fabriken, auf denen das Rad über rauen Asphalt und Steinpflaster rollte, machte es mehr Mühe anzuhalten, als weiterzufahren.
    Das Rad wich einer Furche aus.
    Als aus dem Nirgendwo ein Lastwagen auftauchte und laut hupte, zuckte Jacks rechtes Auge. Der Fahrer reckte drohend eine riesige fleischige Faust aus dem Fenster, doch Jack fuhr selbstvergessen weiter. Dröhnend überquerte der Lastwagen die Kreuzung und verfehlte Jack nur um wenige Zentimeter.
    Am Himmel ballten sich Wolken zusammen. Mit leisem Summen verbreiteten die Straßenlampen inzwischen ihr rötliches Licht. Jacks Füße beschrieben kleine Kreise, als er mit vermindertem Tempo in die Pedalen trat und durch die Dunkelheit radelte. Fünf Kilometer pro Stunde, dann drei, danach nur noch anderthalb, bis das Rad schließlich ins Schwanken geriet. Mechanisch ließ der Körper ein Bein auf den Boden hinunter. Doch es kam zu früh auf, so dass der Körper einen Satz tat, die Zehen sich verdrehten und zurückbogen.
    »Autsch!«
    Dem Körper reichte es.
    Hals über Kopf und mit panischer Miene kehrte Jack in die Wirklichkeit zurück. Als er vom schmalen Ledersattel glitt, stieß er sich die Leiste an der Fahrradstange, was Körper und Seele in einem einzigen schmerzhaften Moment wieder miteinander vereinte. Jack stürzte und landete taumelnd auf beiden Beinen, ehe das Rad umkippte. Dabei verfing sich ein Fuß in den Speichen des Vorderrads.
    »Au, verdammt!«
    Seine Stimme hallte von Wellblechtüren und hohen grauen Betonmauern zurück. Verdutzt holte er Luft und sah sich um: Er war allein, niemand hatte seinen peinlichen Sturz beobachtet. Vorsichtig rieb er sich den schmerzenden Schritt und blickte verwirrt auf die Armbanduhr: Er war eine Stunde und fünf Minuten lang weggetreten gewesen und erinnerte sich fast an nichts.
    Irgendwo war ein hohes Fenster und Dunkelheit gewesen; eine höchst ungewöhnliche Dunkelheit, durch die ein grelles, messerscharfes graues Licht geschnitten hatte. Irgendetwas hatte dort gelauert.
    Über das Dach eines Lagerhauses hinweg sah er hoch aufgestapelte, leere Stahlcontainer, blaue, braune und weiße, die mit den Namen der Reedereien gekennzeichnet waren. Irgendwie hatte er es geschafft, mitten in Sodo, der Südstadt, zu landen; die Docks und ihre riesigen roten Kräne waren fast in Sichtweite.
    Irgendetwas huschte unter einer Reihe großer Müllcontainer hervor.
    Jack zog seinen Fuß aus den Radspeichen und inspizierte den alten Laufschuh und die zerfetzte Socke. Das Vorderrad war kaputt, doch sein Bein hatte kaum einen Kratzer abbekommen. Er hob das Rad auf und drehte es herum. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als es auf dem Rückweg zu schieben.
    Im Dunkeln war erneut ein leises Rascheln und Kratzen zu hören: Etwas Langes, Flaches huschte durch Reihen verschnürter Kartons. Jack riss die Augen auf. Einen Moment lang dachte er, er habe eine Schlange gesehen – eine Schlange mit Zangen am Schwanz. Neugierig ging er auf die Kartons zu, beugte sich hinunter und hob eine durchnässte Schutzplane an, die bis auf den Betonboden reichte. Ein abgehacktes Klopfen ließ den breiten, niedrigen Kartonstapel zu seiner Linken erzittern. Mit verzerrtem Gesicht stieß Jack ihn zur Seite, so dass er umkippte, und konnte gerade noch sehen, wie etwas Langes, glänzend Schwarzes mit vielen Beinen und hinteren Zangen, die so groß wie Hummerscheren wirkten, sich hastig im Hohlraum irgendeiner Metallverkleidung verkroch.
    Mit einem Aufschrei machte Jack einen Satz zurück. Das, was er soeben gesehen hatte, erinnerte ihn an einen Ohrenkneifer. Einen Ohrenkneifer vom Umfang seines Unterarms.
     
    Die folgende Stunde verbrachte Jack damit, das eiernde Rad auf dem Weg unterhalb der Hochstraße nach Hause zu schieben. Während der Himmel sich verdunkelte und der Nieselregen ihn bis auf die Haut durchnässte, versuchte er sich einzureden, das Ding in der Nähe der Docks sei kein riesiger Käfer, sondern lediglich der Schatten einer Ratte gewesen. Nach Hause zurückgekehrt – seine Wohnung lag im dritten Stock eines Mietshauses –, tauschte er das
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