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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
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einen Blick durch die Heckscheibe des Busses.
    Der Mercedes fiel zurück und bog in eine Nebenstraße ein.
    Mit ihrer unversehrten Hand tastete sie in der durch einen Reißverschluss gesicherten Seitentasche des Rucksacks nach
dem Zettel. Nach der Entfernung des schmutzigen Verbandes um ihre Hand hatte die Ärztin in der Klinik eine halbe Stunde lang vorsichtig Ginnys Brandwunden versorgt, ihr eine hohe Dosis Antibiotika gespritzt – und allzu viele Fragen gestellt.
    Ginny drehte sich wieder nach vorn und schloss die Augen. Spürte, wie die Fahrgäste an ihr vorbeigingen und sie dabei leicht streiften, hörte, wie die pneumatischen Vorder- und Mitteltüren sich öffneten und zischend wieder schlossen, die Druckluftbremsen schnauften und ächzten.
    Die Ärztin hatte ihr von einem exzentrischen, aber netten alten Mann erzählt, der allein in einem Lagerhaus voller Bücher lebte. Der alte Mann brauche eine Gehilfin, möglicherweise für längere Zeit. Freie Unterkunft und Verpflegung. Es sei ein sicherer Ort und alles völlig legal. Die Ärztin hatte Ginny nicht gebeten, ihr zu vertrauen, das wäre auch zu viel verlangt gewesen. Später hatte sie eine Wegbeschreibung ausgedruckt.
    Da Ginny nicht wusste, wo sie sonst hätte unterkommen können, hatte sie beschlossen, sich an die Wegbeschreibung der Ärztin zu halten. Sie entfaltete den Zettel. Nur noch ein paar Stationen bis zur First Avenue South, die südlich der beiden großen Sportstadien lag. Es wurde bereits dunkel, war fast acht Uhr abends.
     
    Ehe sie in den Bus gestiegen war – ehe sie den grauen Mercedes gesehen hatte, falls das keine Einbildung gewesen war –, hatte Ginny einen Straßenblock von der Klinik entfernt ein Pfandhaus gefunden, das geöffnet hatte. Dort hatte sie den Bibliotheksstein mitsamt seinem Kästchen versetzt und sich dabei daran erinnert, wie Melvilles Queequeg den Schrumpfkopf veräußert hatte.
    Es war Ginnys Mutter gewesen, die dem Stein diesen Namen verliehen hatte. Ginnys Vater hatte ihn nicht Bibliotheksstein, sondern einen »Integralläufer« genannt. Keiner von beiden hatte diese Bezeichnungen jemals richtig erklärt. Der Stein, ein hakenförmiges Gebilde, das verbrannt aussah und sich zeitweise unsichtbar machen konnte, war in einem mit Blei ausgekleideten quadratischen Kästchen verstaut, dessen Seiten rund fünf Zentimeter maßen. In Ginnys Nomadenfamilie galt er als einziger Besitz von Wert. Die Eltern hatten ihr nie erzählt, wo oder wann sie ihn erworben hatten. Wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht oder konnten sich nicht mehr daran erinnern.
    Das Gewicht des Kästchens schien sich niemals zu verändern, aber wenn sie den gerillten Deckel gemeinsam aufschoben – man konnte ihn nur öffnen, wenn man das Kästchen in eine bestimmte Richtung und danach wieder zurück drehte –, lächelte Ginnys Mutter meistens und sagte: »Der Läufer ist gegen den Uhrzeigersinn davongerannt!« Und dann machten die Eltern eine große Schau daraus, ihrer skeptischen Tochter das leere Kästchen vorzuführen.
    Hingegen konnte es beim nächsten Mal passieren, dass der Stein wieder in seiner ausgepolsterten Vertiefung lag: so fest gefügt, real und zugleich mysteriös wie alles andere im Leben dieser Familie.
    Als Kind hatte Ginny angenommen, im Leben ihrer Familie, die genau wie der Stein mal hier, mal dort war, sei auch irgendein Zaubertrick am Werk.
    Als der Pfandleiher das Kästchen mit ihrer Hilfe geöffnet hatte, war der Stein tatsächlich sichtbar gewesen – zum ersten Mal seit Wochen hatte Ginny Glück gehabt. Der Pfandleiher
hatte ihn herausgenommen, um ihn von allen Seiten zu betrachten. Doch wie stets hatte der Stein sich nicht drehen lassen, so heftig der Pfandleiher auch an ihm gezogen und gezerrt hatte. »Sehr eigenwillig, das Ding. Was ist es, ein Gyroskop?«, hatte er gefragt. »Irgendwie hässlich, aber schlau.« Er hatte ihr einen Pfandschein ausgestellt und zehn Dollar ausbezahlt.
    Das war alles, was sie dabeihatte: den Zettel mit der Wegbeschreibung, einen Busfahrplan und zehn Dollar, die sie Angst hatte auszugeben, denn dann würde sie ihren Integralläufer vielleicht nie wieder auslösen können. Und der Stein war ihr einziges Erinnerungsstück an die Familie. Es war eine besondere Familie gewesen, die dem Glück auf besondere Weise hinterhergerannt und niemals lange am selben Ort geblieben war, niemals länger als ein paar Monate. So als wären ihr Verfolger auf den Fersen.
     
    Der Bus hielt am Randstein;
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