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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
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ächzend öffneten sich die Türen. Als Ginny ausstieg, warf die Fahrerin ihr einen traurigen Blick zu. Gleich darauf schloss sich die Tür hinter ihr, und der Bus fuhr brummend weiter.
    In wenigen Minuten würde die Fahrerin das schlanke braunhaarige Mädchen vergessen haben – das scheue, verängstigte Mädchen, das ständig über die Schulter geblickt hatte.
    Während sich die Dämmerung über die Stadt senkte, blieb Ginny auf dem Fußweg stehen. Weit im Süden schnitten Flugzeuge goldene Kondensstreifen in den tiefblauen Himmel. Sie lauschte auf die Geräusche der Stadt, das Atmen der Gebäude, das Gemurmel der Straßen. Im Osten und Westen war Verkehrslärm zu hören, gefiltert und gedämpft durch die lang gestreckten Bauten der Lagerhäuser. Irgendwo ging in einem
Wagen eine Alarmsirene los, um gleich darauf mit einem enttäuschten letzten Aufheulen zu verstummen.
    Weiter unten an der Straße drang aus den Fenstern und der offenen Tür eines Thai-Restaurants warmes Licht. Tief einatmend, musterte Ginny die breite Straße, die bis auf die schwindenden Rücklichter des Busses völlig verlassen dalag. Dann schulterte sie den Rücksack, überquerte die Straße, blieb im fahlen, orangefarbenen Lichtkegel einer Straßenlampe stehen und starrte auf die grüne Plattenmauer des Lagerhauses vor ihr. Ein sicheres Versteck. Niemand würde sie hier finden, niemand von ihr erfahren.
    Ein gutes Gefühl.
    Sie wusste, wie man Spuren verwischen und Erinnerungen löschen konnte. Falls der alte Mann sich als schmieriger Perverser entpuppte, würde sie schon wissen, was zu tun war. Sie war schon mit Schlimmerem, viel Schlimmerem fertig geworden.
    Auf der Nordseite des Lagerhauses fasste ein Maschendrahtzaun eine Betonrampe und einen leeren kleinen Parkplatz ein. Am Fuß der Rampe versperrte ein verschlossenes Tor den Zugang vom Fußgängerweg her. Ginny hielt nach Überwachungskameras Ausschau, konnte aber keine entdecken. Ein alter elfenbeinfarbiger Plastikknopf, der in eine grün angelaufene Messingplatte eingelassen war, bot die einzige Möglichkeit, sich bemerkbar zu machen. Nochmals überprüfte sie die Adresse auf der Wegbeschreibung. Sah zum Erker des Lagerhauses hinauf. Schob den Zeigefinger durch den Maschendraht. Drückte auf den Klingelknopf.
    Kurz darauf, sie wollte schon gehen, ging das Tor mit einem Summen auf. Niemand meldete sich, niemand begrüßte sie.
    Trotzdem war sie erleichtert und ließ die Schultern sinken. Sie war furchtbar müde.
    Doch nach allem, was sie durchgemacht hatte, wagte sie nicht, ihrem Glück zu trauen. Deshalb setzte sie all ihre Stärken und Gaben dazu ein, nochmals hastig nach einem besseren Ausweg aus diesem Wirrwarr von Gegebenheiten und möglichen Folgen zu suchen, doch es fiel ihr keiner ein. Das hier war der einzig gute, gangbare Weg. Jeder andere würde sie in den bläulich weißen Wirbelsturm zurückführen, dem sie in den Wäldern ausgeliefert gewesen war.
    Schon seit Monaten hatte sie gespürt, wie ihre Wahlmöglichkeiten zusammenschrumpften. Doch nie hätte sie gedacht, einmal in diesem Lagerhaus oder in Seattle zu landen, nie hätte sie vorhersehen können, dass sie hier eine Freie Klinik aufsuchen und auf eine hilfsbereite Ärztin stoßen würde.
    Ginny öffnete das Tor und ging die Rampe hinauf. Gleich darauf schwang das Tor ächzend und quietschend zurück und schloss sich hinter ihr.
    Heute war ihr achtzehnter Geburtstag.

2
    Jack Rohmers Körper war durstig. Jack Rohmers Körper war müde.
    Die eine Straße hinauf, die andere Straße hinunter: Das Fahrrad trug den schlanken, dunkelhaarigen jungen Mann fast von allein vorwärts. Ein gelegentlicher Druck auf die Lenkstange,
ein beiläufiges Beugen der Schultern, eine Zunge, die zwischen schlaffen Lippen hervorlugte, braune Augen, die wie blind nach vorn starrten – all das und das stete, gleichmäßige Treten der Pedalen sagten der Welt und dem Rad, dass Jack Rohmer geistig völlig abwesend war.
    Über den hinteren Gepäckträger war eine Satteltasche voller Hämmer geschlungen, die aneinanderschepperten, wenn das Rad durch Kuhlen im Straßenpflaster fuhr.
    Sich selbst überlassen, ist auch ein junger Körper nicht unbedingt an Abenteuern oder Neuem interessiert, sondern will Beständigkeit. Er zieht es vor, keine wichtigen Entscheidungen treffen zu müssen. Hin und wieder dreht er sich, legt sich in eine Kurve, meidet leicht beunruhigt Autos und andere Hindernisse – mehr vermag der Körper nicht zu leisten, wenn sein
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