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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
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eintrat, erfasste der graue Suchscheinwerfer des Zeugen erneut die Kammer. Als er das Angelin abtastete, bemerkte Ghentun bei ihm ein inneres Linienraster, die höchst komplexe, diamantartige Struktur noetischer Materie. Das Angelin oszillierte vor seinen Augen. Die Lippen bewegten sich nicht, doch seine Kälteblase schimmerte auf.
    »Trage einer Person, die solche Träume hat, auf, dich zum Zerstörten Turm zu begleiten.«
    »Wann?«
    »Man wird es dich wissen lassen.«
    Plötzlich spürte Ghentun einen Anflug von Frust. »Wisst Ihr, was Dringlichkeit bedeutet?«
    »Nein. Du kannst entweder noch bleiben und mir erklären, was du damit meinst, oder diese Anweisungen befolgen. In fünfundsiebzig Jahren wird der Bibliothekar dich zu einem Gespräch empfangen. Ist das schnell genug?«
    »Ich werde mich wohl damit begnügen müssen.«
    »Friede und Permutation seien mit dir, Hüter.«
    Das Angelin schoss davon und ließ eine Spur silberner Vektoren hinter sich zurück, die sich bald miteinander verbanden und danach verschwanden. Früher einmal hätte der Anblick einer solchen Vektorenspur Ghentun entzückt; jetzt kam sie ihm nur blass und mickrig vor.
    Schicksale, die an ihre Grenzen stoßen. Wege, die sich verengen.
    Ghentun zog den Umhang zusammen und verließ Malregard. Als das Angelin ihn nach Träumen gefragt hatte, war er ihm die Antwort schuldig geblieben, denn er musste so viel wie möglich zurückhalten, durfte es erst später offenbaren – dem wichtigsten Geist des Bibliothekars persönlich, wie er verzweifelt
hoffte. Sowieso hatte er bei dieser ganzen Mission keine sonderlich optimistischen Gefühle gehegt. Was ihnen jetzt drohte, war das Ende aller Geschichte, das Ende all dessen, was menschlich und bewahrenswert war. All das würde in dem bösartigen Wahnsinn aufgehen, den das Chaos seit ewigen Zeiten barg.
    Nach hundert Billionen Jahren der Selbstbehauptung bestand für die Kalpa kaum noch Aussicht, verschont zu werden.

ERSTER TEIL
SCHICKSALSWANDLER

ZEHN NULLEN

1
Seattle
    Die Stadt war jung. Unglaublich jung.
    Der aufsteigende silberblaue Mond zeichnete sich scharf über einer zartgrauen Wolkendecke ab. Wenn man nach Osten blickte, über die Hügel hinweg, wo bald die Sonne aufgehen würde, sah man eine Helligkeit, die so gelblich und real schimmerte, als wäre sie aus Butter.
    Die Stadt empfing den kommenden Tag mit kühlem Tau, der das junge grüne Gras benetzte, an Fenstern herunterrann, von Geländern perlte und Diebesfinger frösteln ließ.
    Keiner, der in der Stadt erwachte, ahnte auch nur, wie jung und frisch sie war. Alle mussten Pläne für ihr Leben schmieden, sich um Dinge sorgen, die sie blind für alles andere machten. Was würde sie dazu bringen, endlich diese wohltuende Kühle und Frische zu riechen, wenn nicht der Hauch von etwas Andersartigem?
    Jeder kümmerte sich um die eigenen Angelegenheiten.
    Der Tag verging, die Dämmerung senkte sich über die Stadt.
    Kaum jemand bemerkte die Veränderung.
    Den Hinweis darauf, dass etwas verloren gehen würde.
     
    Zu ihrem Entsetzen glaubte Ginny in dem breiten Seitenspiegel des Metro-Busses den alten grauen Mercedes zu erkennen. Fast hätte sie aufgeschrien. Der Wagen hielt auf der benachbarten Fahrspur, zwei Wagenlängen hinter dem Bus, und blockierte den Verkehr. Deutlich waren die getönten Heckscheiben und der Riss in der fleckigen Windschutzscheibe zu sehen.
    Sie sind es – der Mann mit dem Silberdollar und die Frau, die zwischen ihren Fingern Flammen auflodern lassen kann.
    Als die vordere Bustür aufglitt, trat Ginny zurück auf den Gang. Die Lust, eine Station zu früh auszusteigen und ein paar Schritte zu tun, um sich die Beine zu vertreten und nachzudenken, war ihr vergangen.
    Die Busfahrerin sah Ginny scharf an. Sie war eine füllige Schwarze mit elfenbeinfarbenen Augäpfeln, hellbraunen Augen, dunkelrot geschminkten Lippen und Diamanten in den Schneidezähnen. Nach einem harten Arbeitstag roch sie immer noch leicht nach dem Parfüm My Sin . »Verfolgt dich jemand, Süße? Ich kann die Polizei rufen.« Mit einem langen perlmuttfarbenen Fingernagel klopfte sie auf die Notruftaste des Busses.
    Ginny schüttelte den Kopf. »Das bringt nichts. Ist nicht der Rede wert.«
    Die Fahrerin seufzte, schloss die Tür und fuhr weiter. Ginny setzte sich wieder und nahm ihren Rucksack auf den Schoß. Sie vermisste das Gewicht des Kästchens, aber wenigstens befand es sich an einem Ort, wo es vorläufig sicher war. Über die Schulter warf sie
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