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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters
Autoren: Laura Joh Rowland
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er seinem sôsakan des Öfteren den unsinnigen Befehl, sich auf die Suche nach Geistern, Zaubertränken und vergrabenen Schätzen zu begeben. Sano hatte keine andere Wahl, als diesen unsinnigen Befehlen zu gehorchen, denn der Shogun war der uneingeschränkte Herrscher über Sanos Zukunft und sein Leben und durfte bedingungslose Treue und Ergebenheit verlangen.
    Sanos Privatleben bot nur wenig Ablenkung. Wenngleich die Zeit und seine eiserne Selbstdisziplin den heftigsten Schmerz über den Verlust Aois bezwungen hatten – die Frau, die er liebte –, konnte er die Erinnerungen an sie nicht abschütteln. Mehr als ein Jahr lang schob Sano die Heirat mit Reiko nun schon vor sich her – nicht nur deshalb, weil diese Ehe die Trennung von Aoi endgültig machen würde. Vor allem wollte Sano sich nie wieder so eng an einen anderen Menschen binden wie an Aoi, weil der Schmerz dann um so bitterer war, wenn man diesen Menschen verlor. Deshalb war Sano begierig auf jeden Auftrag, der den Einsatz von Leib und Leben erforderlich machte und es ihm erlaubte, die Hochzeit mit Reiko ein weiteres Mal aufzuschieben.
    Plötzlich hob er den Kopf, lauschte angestrengt. »Da! Hörst du?«, sagte er zu Hirata.
    Aus der Gasse drangen klatschende Geräusche: Mehrere Personen gingen mit schnellen Schritten durch die Regenpfützen.
    »Seht nur«, sagte Hirata, als sich aus der nassen, triefenden Dunkelheit eine Sänfte schälte, die von vier Männern in Umhängen und Kapuzen getragen wurde. Vor dem Tor der Villa des Händlers stellten die Träger ihre Last ab. Sie alle waren Samurai, wie die Lang- und Kurzschwerter an ihren Hüften erkennen ließen. Das Tor wurde geöffnet, und zwei der Männer eilten hindurch. Kurz darauf kamen sie zurück, verstauten ein mannsgroßes, mit Tüchern umwickeltes Bündel in der Sänfte, wuchteten sich die Tragestangen auf die Schultern und setzten ihren Weg fort.
    Sano alarmierte seine Leute, indem er das Bellen eines Hundes nachahmte. Dann folgten er und Hirata den Sänftenträgern, indem sie im unablässig strömenden Regen immer wieder in Gassenmündungen und Hauseingänge huschten, um nicht bemerkt zu werden. Schatten bewegten sich durch die Dunkelheit, als auch die Männer der Samurai-Spezialtruppe die Verfolgung der Sänfte aufnahmen, wobei sie immer tiefer in das Labyrinth der Straßen Nihonbashis geführt wurden, über Kanalbrücken hinweg und an den geschlossenen Läden in den Handwerker- und Händlervierteln vorüber. Schließlich blieben die Sänftenträger vor mehreren strohgedeckten Gebäuden am Rand des Viertels der Waffenschmiede stehen. Auf einem Schild über einer der Türen waren ein rundes Wappen sowie der Name MIOCHIN zu sehen. Zum ersten Mal stieg eine Ahnung in Sano auf, was mit den gestohlenen Leichen geschehen sein könnte.
    Die Sänftenträger verschwanden mit dem mannsgroßen Bündel im Inneren des Gebäudes. Hinter den Fensterscheiben aus Wachspapier waren brennende Lampen zu erkennen, in deren Licht sich Schatten bewegten. Sano versammelte seine Samurai-Polizisten neben der verlassenen Sänfte. »Umstellt das Haus«, befahl er, »und verhaftet jeden, der herauskommt. Ich gehe jetzt hinein.«
    Er zog sein Schwert, doch Hirata flüsterte drängend: »Diese Diebe sind gefährliche Mörder, sôsakan . Bitte, bleibt hier in Sicherheit.« Hiratas breites, jungenhaftes Gesicht unter dem Hut war sorgenvoll verzogen, sein ernster Blick flehend. »Lasst mich und die anderen diese Sache übernehmen.«
    Ein Lächeln huschte über Sanos Gesicht. Obwohl Hirata erst einundzwanzig Jahre alt war, nahm er seine Rolle als oberster Gefolgsmann und wichtigster Beschützer seines Herrn sehr ernst und widersetzte sich immer wieder Sanos Wunsch, sich allein den größten Gefahren für Leib und Leben zu stellen und die gefährlichsten Schlachten ohne jede Hilfe zu schlagen. Hirata wusste nicht, dass die Angst seines Herrn vor dem Versagen größer war als seine Furcht vor dem Tod. Ebenso wenig wusste er, dass Sano die Gefahr brauchte, und den Kampf mit dem Bösen. Der Bushido – der Weg des Kriegers – lehrte, dass das höchste Ziel eines Samurai darin bestand, sein Leben im Dienst für seinen Herrn zu lassen. Pflichtbewusstsein, Treue und Mut waren die höchsten Tugenden des Bushido und bildeten das Fundament für die Ehre eines jeden Samurai.
    Doch in Sanos Augen besaß der Bushido noch einen vierten Eckpfeiler, der für seine Ehre ebenso wichtig war wie Pflichtbewusstsein, Mut und Treue: das beständige
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