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Die Spur der Kinder

Titel: Die Spur der Kinder
Autoren: Hanna Winter
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den Rücken hinab.
    Wann wird das alles endlich ein Ende haben?
    Ihre Finger umklammerten die Fernbedienung, und sie spürte, wie sie sich zunehmend verkrampfte, als die Gesichtszüge des Kindes vor ihren Augen zu einer hässlichen Fratze verschwammen. Abrupt schaltete sie den Fernseher aus und warf die Fernbedienung neben sich auf das Sofa. Ihr Blick fiel auf den Kachelofen, unter dem sie eine Flasche JohnnyWalker versteckt hatte. Wieder war da dieses Verlangen, das sie wie ein Schatten durch den Tag verfolgte. Sie atmete tief durch, bemüht, dem Drang, zur Flasche zu greifen, zu widerstehen.
    Am liebsten wollte sie vor sich davonlaufen. Kurzzeitig kämpfte sie mit sich. Dann eilte sie ins Schlafzimmer, streifte ihre Sachen ab, zog eine Leggings, ein T-Shirt und ihre Sportschuhe an und lief die Treppen hinunter.
    Sie hatte ihre engen, etwas zu kleinen Laufschuhe eine Ewigkeit nicht mehr getragen, doch der brennende Schmerz der Reibung spornte sie jetzt nur noch mehr an. Fiona joggte, nein rannte immer schneller, bis ihre Beine zitterten und sich ihre Füße beinahe überschlugen. Ihr rechter Schuhbändel löste sich, doch Fiona dachte nicht daran, anzuhalten, trieb sich stattdessen nur noch schneller voran. Sie hetzte die Straße entlang bis zu der großen Kreuzung, überquerte ein Parkstück und bog am Spielplatz ab.
    Renate Pohl saß mit den Kindern der Nachmittagsgruppe am Sandkasten, während Fritz Brommer noch immer wie angewachsen auf der Parkbank saß.
    Erst als Fiona das Bundeswehrkrankenhaus und den Invalidenfriedhof hinter sich gelassen und das verlassene Industriegebiet am Nordhafen erreichthatte, machte sie an einer Uferböschung halt und verschnaufte. Sie strich sich die Haare aus der geschwitzten Stirn, setzte sich erschöpft ans Ufer und spürte den warmen Asphalt unter sich. Für einen Moment schloss sie die Augen.
    So kann es nicht weitergehen. Du kannst nicht ewig vor der Vergangenheit weglaufen. Du musst endlich einen Weg finden, dich dem, was passiert ist, zu stellen.
    Sie starrte noch eine Weile auf das Wasser, in dem sich die untergehende Sonne rötlich spiegelte.
    ***
    Die Standuhr im Wohnzimmer schlug elf. Fiona saß noch immer an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Binnen weniger Stunden hatte sie an den Rand ihres Laptops etliche Post-its mit Vermerken zu Figuren, Orten und Handlungssträngen geheftet. Ihr Schreibtisch war übersät mit Schmierzetteln und stammbaumartigen Skizzen. Auf dem Boden häufte sich zusammengeknäultes Papier.
    »Noch einmal las Katrin Taubert die Rundmail, in der ihr Mann die frohe Botschaft verkündete. Er hatte sie an sämtliche Freunde und Bekannte verschickt.
    ›Wir sind überglücklich über unseren dreitausenddreihundert Gramm schweren Zuwachs – unsere süße Leni.‹
    Doch während alle Welt auf dem Foto darunter eine glücklicheFamilie sah, wusste Katrin, dass sie niemals eine gute Mutter sein würde, wusste, dass sie es wieder tun würde … «
    So lauteten die ersten Sätze in Fionas Word-Dokument. Die ersten Sätze ihres neuen Romans. Schlagartig schossen Fiona die Tränen in die Augen.
    »Halten Sie Ihre Gefühle nicht zurück, lassen Sie ihnen freien Lauf, wann immer Ihnen danach ist«, hatte Doktor Mierau stets gepredigt.
    Und genau das tat Fiona jetzt. Sie zwang sich, weiterzuschreiben. Wut, Trauer und Ohnmacht – Gefühle, die sich so tief in ihrem Innern verbargen, dass es nicht einmal den Therapeuten mit ihren bohrenden Fragen gelungen war, sie aus ihr herauszukitzeln, bahnten sich ihren Weg in das Manuskript wie ein Akt der Selbstbefreiung. Fiona tauchte tief in die Welt ihrer Romanheldin ein.
    Um kurz nach Mitternacht klappte Fiona ihren Laptop zu und ging in die Küche. Vor der Spüle blieb sie unschlüssig stehen. Einerseits war da die Erleichterung. Andererseits war da wieder jenes Gefühl von Unruhe, Beklemmung und tiefer Verzweiflung. Wohl wissend, dass es falsch war, holte Fiona eine halbvolle Kognakflasche hinter den Putzmitteln unter der Spüle hervor. Sie zögerte. Zu schwach, um gegen ihr Verlangen anzukämpfen, zog sie schließlich den Flaschenkorken heraus undstürzte ein paar Schlucke hinunter, als sie hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Danach Schritte im Flur. Hastig ließ sie die Flasche verschwinden.
    »Na, sind wir mal wieder durstig?« Erschrocken drehte Fiona sich um. Adrian lehnte bereits im Türrahmen. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
    »Du kommst spät heute«, sagte sie statt einer
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