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Die Spur der Kinder

Titel: Die Spur der Kinder
Autoren: Hanna Winter
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keinen Empfang mehr hatte.
    Eine ganze Weile war er nun schon keiner Menschenseele mehr begegnet, und er dachte für einen Moment daran, umzukehren und seine Suche im Morgengrauen fortzusetzen, als er aus der Ferne eine kleine, am Rande einer Waldlichtung gelegene Bungalowsiedlung bemerkte. In langen Zügen ruderte er darauf zu, schwang die Kette um einen Baumstumpf und betrat mit einem Ausfallschritt das Ufer. Ein schmatzendes Geräusch verriet, dass er mit seinen neuen Lederschuhen knöcheltief im Schlamm stand.
    »Mist«, stieß er leise aus und lief auf die Siedlung zu. Alles schien wie ausgestorben, kein Licht brannte in den heruntergekommenen Bungalows, kein Laut war zu hören. Piet Karstens hatte sich schon damit abgefunden, den Weg umsonst gemacht zu haben, als er im Fenster eines abseits gelegenen Bungalows auf einmal ein schwaches Licht entdeckte.
    ***
    Fionatraute ihren Augen nicht. Sie hatte mit allem gerechnet, doch die Tatsache, dass ausgerechnet der Mensch für das Verschwinden ihrer Tochter verantwortlich sein sollte, dem sie ihr kleines Mädchen tagtäglich blind anvertraut hatte, traf sie wie ein gewaltiger Faustschlag ins Gesicht.
    »Ich muss zugeben, Frau Seeberg, Sie hatte ich in unserem bescheidenen Heim nun wirklich nicht erwartet«, hörte Fiona die ihr wohlbekannte Stimme sagen.
    Vor ihr stand Renate Pohl. Die hilfsbereite, stets so gutmütige Renate Pohl. Warum nur? Warum ausgerechnet Pohl?!, schoss es ihr immer wieder durch den Kopf. Ein kalter Schauer fuhr ihr über den Rücken. Sie musste daran denken, wie sie nach Sophies Entführung Tag ein, Tag aus mit Renate Pohl auf dem Spielplatz gesessen hatte. All das Mitleid, das ihr die Erzieherin entgegengebracht hatte …
    Fiona kam die Galle hoch. Völlig außer sich rüttelte sie an dem Heizungsrohr, versuchte, ihre Hände aus den Fesseln zu befreien und das Klebeband über ihrem Mund irgendwie abzustreifen. Ein erbärmliches und ganz und gar sinnloses Unterfangen.
    Renate Pohl betrachtete sie andächtig über den Rand ihrer bunten Nickelbrille, als entscheide sie augenblicklich über Fionas Schicksal. Über die Art und Weise, wie Fiona sterben sollte. Auf ihren Lippen lagein befremdliches Lächeln. Die Person, die jetzt vor Fiona stand, schien rein gar nichts mehr mit der freundlichen Erzieherin gemein zu haben, die sie kannte. Oder von der Fiona bislang gedacht hatte, dass sie sie kannte.
    »Oh, wie unhöflich von mir«, erklärte Pohl und winkte den Mann im Unterhemd heran. »Darf ich vorstellen, mein Bruder André.«
    Auf einmal wieder schüchtern wie ein Kind, drückte sich der Mann an Pohls Brust und gab ein wohliges Grunzen von sich. Plötzlich wurde ein heftiges Klopfen von oben her laut.
    ***
    Piet Karstens hämmerte erneut gegen die Bungalowtür. Wie aus einem Reflex heraus machte er einen Schritt zurück und griff an seine linke Schulter. Doch da waren weder Holster noch Waffe. Langsam öffnete sich die Tür.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ein Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig. Er trug ein Unterhemd und hielt eine Bierdose in der Hand.
    »Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Piet Karstens, Kriminalpolizei, ich bin auf der Suche nach einer Frau, die hier in der Nähe mit ihrem Wagen stecken geblieben ist«, sagte er höflich lächelnd. »Sie ist ungefähr so groß«, erklärte er und hob seine Hand auf Höhe seiner Schulter.»Ungefähr mein Alter. Etwas jünger vielleicht, und sie hat hellbraune, schulterlange Haare.«
    Der Mann musterte ihn kopfschüttelnd. »Hier? Nö, hab niemanden gesehen. Und ehrlich gesagt, verirren sich hierher auch keine Touristen. Die wäre mir garantiert aufgefallen.«
    »Hm, sind Sie ganz sicher?«, fragte Karstens noch einmal, während er dem Mann flüchtig über die Schulter spähte. Im Hintergrund lief ein Fernseher.
    »Todsicher«, erklärte der Mann.
    »Na gut«, sagte Karstens kopfnickend, »hab’s mir ja schon fast gedacht. Dann schönen Abend noch«, verabschiedete er sich und wandte sich ab.
    »Ihnen auch. Und viel Glück noch bei Ihrer Suche«, meinte der Mann und schloss die Tür.
    Leise vor sich hin fluchend, lief Karstens auf seinen Kahn zu, als er unvermittelt innehielt. Als hätte er einen Geist gesehen, drehte er sich noch einmal zum Bungalow um. Aber was er gesehen hatte, war kein Geist – es waren …
    Lilien. Weiße Lilien.
    Karstens schlich sich von hinten an den Bungalow.
    Großer Gott, das ist ja ein ganzes Beet voller Lilien!
    Einmal mehr wünschte er
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