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Die Spur der Hebamme

Titel: Die Spur der Hebamme
Autoren: Sabine Ebert
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Meister Wolfram in Meißen.«
    Solche herrischen Auftritte waren nicht Marthes Art, aber sie hatte lernen müssen, dass auch das gelegentlich nötig war, um sich zu behaupten.
    Angesichts ihrer Worte huschten Gier und Bestürzung in schnellem Wechsel über Meister Josefs Gesicht. Unter vielen Beteuerungen und Verbeugungen führte er seine Kundin zur Tür.
    Als sie aus dem Haus trat, wusste sie sich schon von einem unsichtbaren Rattenschwanz von Kindern verfolgt. Bald entdeckte sie, wonach sie Ausschau hielt.
    Sie winkte ein mageres kleines Mädchen mit strähnigem Haar zu sich, das barfuß und mit zerlumptem Kleid im Schnee stand und sie mit flackernden Augen beobachtete.
    »Du da! Du kannst mir die Einkäufe nach Hause tragen. Ich werde dich dafür bezahlen«, rief sie mit befehlsgewohnter Stimme. Die Kleine huschte herbei.
    »Gern, edle Dame«, flüsterte sie und griff nach dem Bündel Kerzen, während ihre Augen Marthes Taille streiften. Die wusste, dass diese Augen nach der Geldbörse am Gürtel unter ihrem Umhang suchten.
    Marthe nahm das Mädchen fest bei der Hand, damit es nicht weglaufen konnte, und ging nun zielstrebig nach Hause. Sie wollte, dass das halbnackte Kind bald aus der Kälte kam, und sie fühlte sich auch zunehmend unwohl unter den vielen heimlichen Blicken, die ihr folgten.
    Sie führte die Kleine in die Küche, schob sie Richtung Feuer und nahm ihr die Einkäufe ab. »Möchtest du etwas essen?«, fragte sie.
    Das Mädchen bekam leuchtende Augen und nickte, doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. »Ihr habt gesagt, Ihr würdet mich bezahlen, Herrin«, meinte sie ängstlich.
    »Das werde ich auch«, beruhigte Marthe sie und füllte eine Schüssel mit warmem Brei. »Hier, iss.«
    Sie wies die Köchin an, auf das Mädchen aufzupassen, das mit Heißhunger den Brei hinunterschlang, und ging hinaus, um Christian zu holen.
    Als sie wenig später mit ihm die Küche betrat, zuckte die Kleine zusammen, schaufelte hastig den letzten Löffel voll in sich hinein und kniete nieder, die Augen ängstlich auf den Schwertgurt des streng dreinschauenden Ritters gerichtet.
    »Du heißt Anna, nicht wahr?«, fragte Marthe und erntete dafür einen überraschten Blick. »Das ist Christian, der Herr des Dorfes«, fuhr sie ruhig fort. »Er wird morgen über deinen Bruder richten, der beim Diebstahl ertappt wurde.«
    Das Mädchen sah wieder voller Angst auf Christian.
    Als niemand etwas sagte, stand sie langsam auf und trat zwei Schritte auf ihn zu.
    »Bitte, Herr, tut meinem Bruder nichts. Dann werde ich auch sehr nett zu Euch sein«, flüsterte sie und hob ihr zerlumptes Kleid hoch, wobei sie sich unbeholfen mit dem Ärmel ein paar Tränen abwischte.
    Marthe und Christian wechselten einen finsteren Blick. Siewussten beide, dass in großen Städten gewissenlose Anführer ganze Kinderbanden zu Beutezügen abrichteten und nicht selten auch dazu zwangen, die abartigen Gelüste mancher Männer zu befriedigen. Doch hier? Und diese magere Kleine war noch nicht einmal sechs Jahre alt!
    Christian räusperte sich. »Zieh dein Kleid wieder herunter. Auf diese Art musst du hier zu niemandem nett sein.«
    »Aber wenn Ihr meinem Bruder die Hand abschlagen lasst, kann er seine Arbeit nicht mehr tun, Herr. Dann wird der Meister ihn davonjagen, und er wird verhungern, und ich bin ganz allein«, sprudelte es aus dem Mädchen heraus.
    »Verrate uns, wo ihr euch versteckt. Dann sorge ich dafür, dass du und dein Bruder eine richtige Unterkunft und ausreichend zu essen bekommt, ohne dafür stehlen … und zu Männern nett sein zu müssen«, redete Christian ihr zu.
    »Aber er wird uns und die anderen bestrafen … Wir werden alle sterben«, wimmerte das Mädchen und biss sich auf die Fingerknöchel.
    »Du hast mein Wort. Dieser ›Meister‹ wird keinem von euch mehr etwas antun können. Wer von deinen Gefährten hierbleiben will, kann sich mit ehrlicher Arbeit sein Brot verdienen.«
     
    Für den nächsten Morgen hatte Christian das gesamte Dorf zum Gerichtstag zusammengerufen. Schwere Verbrechen, auf die die Todesstrafe stand – wozu oft auch Diebstahl zählte –, wurden in Meißen verhandelt, die Zwistigkeiten der Bergleute schlichtete der Bergmeister, aber für alle anderen Streitigkeiten im Dorf war Christian zuständig. Von den verhängten Bußgeldern stand ihm ein Anteil zu, ebenso für die Nutzung der Dorfmühle, des Gemeindebackofens und das Braurecht. Er brauchte das Geld, um für den Schutz des Dorfes
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