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Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Titel: Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Autoren: Heiner Wacker
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linken Hand in das wirre grauweiße Haar der Frau und reißt ihren Kopf nach hinten. Der Mantel klafft auseinander und zeigt eine gar nicht zur restlichen Erscheinung passende adrette Weste, die mit kleinen blassblauen Vierecken gespickt ist. Ein schräg vor der alten Frau stehender Sicherheitsoffizier sieht die Weste und öffnet den Mund, um etwas zu rufen, aber es ist zu spät dafür. Ein unirdisch heller Blitz bricht im Millionstel einer Sekunde aus der Brust der Frau und überzieht die Umstehenden mit einem Mantel aus Kraft und Licht. Die unmittelbar darauf folgende Druckwelle beschleunigt jeden der im Radius von fünfundzwanzig Metern gelegenen Gegenstände innerhalb kürzester Zeit auf Schallgeschwindigkeit. Pflastersteine, Fahrzeuge und die Bestandteile einer Menge menschlicher Körper schlagen im Umkreis von zweihundert Metern in die umliegenden Gebäude sowie das, was sich davor befindet, ein und überziehen alles mit einer Emulsion aus organischem und anorganischem Material. Mehrere Fassaden verneigen sich majestätisch, bevor sie langsam zu Boden sinken. Zehn Minuten vergehen, bis die Sirenen der ersten Rettungsfahrzeuge zu hören sind. Es dauert eine weitere halbe Stunde, bis sich der Rauch der Explosion soweit verzogen hat, dass der erste Hubschrauber auf dem Domplatz landen kann. Für die meisten Schaulustigen, einige späte Gäste und große Teile von Münsters guter Stube allerdings kommt jede Hilfe zu spät.

ii Peterchens Mondfahrt
    Frisch genervt von einer langen Reihe maximalinvasiver Leibesvisitationen radelt Carsten Kluncker die Schillerstraße hinunter Richtung Gut Lütkenbeck. Der Asphaltbelag der alten Fahrradtrasse ist in den letzten zehn Jahren nicht gerade mit Aufmerksamkeiten überschüttet worden, aber Carsten fährt schon seit undenklichen Zeiten ein voll gefedertes City Bike mit luftfreien Kautschukreifen und ist über die zahllosen Löcher in der Straßendecke erhaben. Der Himmel hat wieder aufgeklart und die Temperatur liegt bei gepflegten vierzehn Grad, genug für einen Gärtner, um Frühlingsgefühle zu bekommen. Er stoppt an den verrotteten Pfeilern der ehemaligen Kanalbrücke und winkt dem Fährmann. Das ist das Schöne an Münster: Alles hat die richtige Größe und ist genau da, wo man es braucht. Auch wenn die Welt nicht mehr das ist, was sie einmal war: Hier lässt es sich trotz allem noch aushalten.
    Die Fähre macht zunächst keine Anstalten den Kanal zu überqueren, um Carsten und sein Fahrrad zu verladen, aber das darf man dem Kapitän nicht übel nehmen. Die Bezahlung für seine Mühen besteht in der Regel nur aus materiellen Zuwendungen seiner Fahrgäste: Lebensmittel, Kleidungsstücke, Bücher und vor allem Hörbücher, denn Käpt‘n Silver – wie er von seinen Kunden aufgrund eines körperlichen Handicaps genannt wird – hat tagsüber viel Zeit zum Zuhören: Meistens lauscht er den Klagen seiner Fahrgäste, und wenn die nichts zu meckern haben, muss ein altes Hörbuch herhalten.
    Carsten schlägt den Kragen seiner verblichenen Regenjacke hoch und setzt sich auf eine der beiden baufälligen Bänke, die rechts und links des Anlegers stehen. Im Sommer sind die Uferstreifen des alten Dortmund-Ems-Kanals die reinste Idylle. Niemand kümmert sich noch um die Instandhaltung der ehemaligen Lastkahntrasse, seit die Europäische Union Anfang der zwanziger Jahre die deutschen Wasserstraßen konfisziert hatte und – nachdem die Einnahmen aus der Wassermaut aufgrund des Rückgangs der allgemeinen Wirtschaftsleistung in Deutschland so stark geschrumpft waren, dass sich eine Wartung nicht mehr rechnete – den Betrieb schließlich zweitausendunddreißig einstellte. In der Folge wurden die Schleusenanlagen auf Durchzug gestellt und das ehemals stille Wasser des Kanals begann Richtung Nordsee zu fließen. Heute vermissen nur noch wenige Romantiker das sonore Tuckern der Schleppkähne, der Rest freut sich über eine Entwicklung, die Münster auf die alten Tage doch noch einen Fluss beschert hat, wenn auch nur einen kleinen.
    Das leise Schnurren des antiken Hybrid-Motors der Fähre scheucht Carsten aus seinen Träumen. Er holt sein Fahrrad und rollt kurz darauf in Begleitung zweier frisch eingetroffener E-Biker mit wenig Achtung vor dem Alter an Bord. Nur wenige Minuten später und um ein Tütchen selbst gezogenes Gras ärmer setzt er seinen Heimweg fort.
    Als Carsten im Sozialtrakt seiner Mumien-WG ankommt, ist die Feier schon in vollem Gang. Erwartungsgemäß drehen sich die
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