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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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von mir zur Nacht, setzte die Spieluhr in Gang und verschwand in der Welt seiner schönen Urahne.
    Ich liebte diese Frau auf dem Bild zum Verzweifeln, die Tage und Nächte waren angefüllt mit Gedanken an sie, ich träumte davon, die Grenze zu durchbrechen, die mich in ihre Arme führen würde, aber etwas hielt mich zurück, das stärker war als mein Verlangen.
    In jenen Tagen begann sich unser Kriegsglück zu wenden, die 6. Armee ging in Stalingrad unter, und wir arbeiteten verzweifelt an einer politischen Lösung, um die totale Katastrophe, die sich bereits deutlich abzeichnete, zu verhindern.
    Alle Anstrengungen haben nichts genutzt, Gott hat uns fallengelassen, wenn er jemals auf unserer Seite war.
    Und gestern in der Nacht zerplatzte die letzte Hoffnung, die wir noch hatten …«
    DER MAJOR ERHOB SICH.
    Die Spieluhr hatte zu schleppen begonnen und drohte stehenzubleiben.
    Er zog sie auf, nahm sie dann vorsichtig in die Hand und stellte sie auf das Tischchen zwischen unseren Sesseln.
    Die kleine Tänzerin drehte sich auf ihrer Scheibe, und als ich sie im Lichte des Kaminfeuers näher betrachtete, sah ich plötzlich zu meinem Schrecken, daß sie ein lebendiges Wesen war, eine winzig kleine Frau, nicht aus Porzellan, sondern aus Fleisch und Blut – Arabella, die schöne Tänzerin aus Samarkand, Geliebte Giambattista Viallis und Opfer der grausamen Rache der Marquise von Montrague.
    Ihre Bewegungen hatten nichts Mechanisches mehr an sich; sie waren der anhaltende, gleichermaßen verzweifelte wie vergebliche Versuch, von der Stelle zu kommen, sich vom Boden loszureißen, an den sie befestigt war.
    Fassungslos hatte ich dieser Erscheinung zugesehen, und so unheimlich und grausam ihr Anblick auch war, ich konnte meine Augen nicht abwenden. Es schnürte mir die Kehle zu, ja zerriß mir fast das Herz, denn dieses kleine Wesen war das traurigste, was ich je gesehen hatte.
    Wie gerne hätte ich geholfen, aber ich war unfähig, mich zu rühren!
    So wahnwitzig mir Jean-Lucs Berichte auch erschienen waren, im Detail bestätigten sie sich immer wieder aufs neue.
    Der Major bemerkte meine Verwirrung und sah mich fragend an.
    Vielleicht kannte er Arabellas traurige Geschichte, vielleicht aber auch nicht, und ich überlegte, ob ich ihm erzählen sollte, was ihr die Marquise angetan hatte und daß Schönheit nicht immer auf einen gefälligen Charakter schließen lasse.
    Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er plötzlich: »Sie ist wie eine Spinne. Sie sitzt in ihrem Netz und lauert auf uns. Sie wartet Jahrhunderte, bis wir uns darin verfangen. Ihre Augen verheißen das Himmelreich, ihre Umarmung ist die größte Lust, und ihr Biß ist tödlich. Ihre Liebe wie ihr Haß …«
    Da stand dieser große, erschütterte Mann neben mir in geöffneter Uniformjacke, und der Lehnstuhl vorm Feuer am Kamin warf einen tiefen Schatten auf ihn.
    »Es ist Zeit, mein lieber Wilhelm«, sagte er dann leise und beugte sich ins Licht hinein.
    Er reichte mir die Hand.
    In seinen Augen lagen Unruhe und Angst, aber auch gespannte Erwartung und die Freude, daß er nun in ein neues Leben eintrat, das ganz Musik war und sich im Klang einer fernen Zeit auflöste.
    Und wenn ihn die Marquise endlich in ihre Arme nahm und in der Wirklichkeit auslöschte, dort drüben würde er weiterleben, befreit und ohne Widersprüche, im stillen Land hinter den Bildern.
    PLÖTZLICH BLIEB DIE SPIELUHR stehen, und als hätte jemand die Walze in ihrem Inneren ausgewechselt und erneut aufgezogen, erklang eine andere Melodie, heller, strahlender, in der doppelten Geschwindigkeit.
    Ich vernahm ein Cembalo, dann ein weiteres, eine Geige gesellte sich dazu, und die Klänge dieses Trios vermischten sich mit denen der kleinen Spieluhr und verstärkten einander, bis ich auf einmal das Gefühl hatte, als spiele ein ganzes Orchester eine euphorische Sinfonietta, die den dunklen Raum wie Mondenschein und Sternenstaub durchstrahlte.
    Ich sprang auf und sah mich erstaunt um. Woher kam diese Musik? Da leuchtete das Gemälde an der entfernten Wand auf, und als ich mich wieder dem Major zuwandte, war er verschwunden.
    Im Bild aber regte sich etwas, und ich meinte, eine dunkle Figur zu erkennen, die sich auf die sitzende Marquise zubewegte …
    Dann erlosch das Licht hinter der Leinwand, und die Musik brach ab.
    Ich stand im Dunkeln.
    »Monsieur«, flüsterte es plötzlich neben mir, »kommen Sie, ich bringe Sie nach unten. Es ist Zeit fürs Abendessen. Schnell, bevor uns Minouche
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