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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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das Spinett lehnte.
    Es hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Amadé.
    Das alles wirkte so verwirrend echt, daß ich glaubte, Zeuge eines wirklichen Geschehens zu sein, das aus irgendeinem Grunde angehalten worden war.
    Es war kein historisches Gemälde, auf das ich blickte, es war etwas anderes …«
    DER MAJOR HIELT INNE und überlegte, wie er in Worte fassen sollte, was er gesehen hatte.
    »Da hing keine Leinwand in dem goldverzierten Bilderrahmen«, fuhr er fort, »es war vielmehr ein planes, durchsichtiges, mir unbekanntes Material, eine Art Haut, hinter der sich etwas bewegte oder stillstand und so den Eindruck einer zweidimensionalen, gemalten Fläche vermittelte.
    Auf den symmetrisch angelegten Wegen des Schloßparks, der sich im Hintergrund des Arrangements ausbreitete, spazierten winzige Menschen zwischen Hecken und Blumenbeeten, und als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß sie sich tatsächlich bewegten.
    Die drei Personen im Vordergrund jedoch verharrten leblos wie hinter geschliffenem Kristall.
    Da unterbrach die betende Frau ihren Gesang, und als hätte sie gespürt, daß jemand in der Türe stand, drehte sie sich zu mir um.
    Ihr Gesicht war zusammengepreßt, die Züge derb, häßlich und in die Breite gezogen, der Körper unter dem weißen Stoff massig, und obschon sie am Boden kniete, sah ich, daß sie sehr groß sein mußte.
    Sie hielt eine Spieluhr in der Hand und starrte mich aus dunklen Augen erschrocken an.
    Ihre Kapuze war abgestreift, und das dichte, drahtige Haar stand ihr wirr vom Kopf ab.
    Sie schien außer sich und murmelte Worte, die ich nicht verstand.
    Dann zog sie hektisch die Spieluhr auf, und kaum war der erste Ton erklungen, kam Bewegung in das Bild.
    Mit anmutiger Drehung wandte sich die schöne Cembalistin wieder ihrem Instrument zu, das Kind setzte sich neben sie auf das Sitzbänkchen, und der bezopfte Geiger hob seine Violine unters Kinn. Mit der nun einsetzenden Musik überstrahlte ein grelles Licht das Tableau und verwischte die Figuren.
    Als hätte jemand mit Macht alle Fenster aufgestoßen, fuhr ein Sturm in den Saal hinein und riß die Betende wie ein Spielzeug unter die Decke, wo sie einen Augenblick in ihrem Gewande panisch flatternd um sich schlug. Sie schrie in höchster Not nach der Mutter Gottes. Dann schleuderte sie der Luftstrom mit ungeheurer Gewalt in das Bild hinein und löschte alle Kerzen aus.
    Mit einem Schlag war es stockdunkel und totenstill …
    Nichts.
    Schwarz.
    Kein Laut.
    Nur das Rauschen des Blutes im Ohr …
    Dann plötzlich leise Schritte.
    Irgendwer war im Dunkel losgelaufen und kam langsam näher.
    Mir schlug das Herz bis zum Hals, und wie in einem Albtraum war ich unfähig, mich zu bewegen.
    Auf einmal schob sich eine winzige, kalte Hand in die meine und zog mich sanft von der Türe fort, an der ich noch immer stand, den finsteren Flur entlang und hinaus ins Treppenhaus.
    In dem spärlichen Licht, das weiß Gott woher kam, erkannte ich Amadé.
    Er ließ meine Hand los und sah mich besorgt an.
    ›Monsieur, das war Séraphine‹, sagte er, ›jetzt ist sie bestimmt glücklich, Marie-Élisabeth hat sie zu sich genommen … Marie-Élisabeth sagt, Sie sind wunderschön, Monsieur, und sie wünscht, Sie kennenzulernen, aber erst, wenn Sie bereit dazu sind. Sie müssen auf die andere Seite und können nicht mehr zurück.
    Das soll ich Ihnen sagen. Spielen Sie morgen mit mir Klavier?‹
    Ich nickte, er strahlte mich an und verschwand, indem er eilig die Treppenstufen hinabsprang.
    Von diesem Tag an traf ich ihn fast täglich im Spiegelsaal, meist am Nachmittag, wenn meine Arbeit erledigt war.
    Ich hatte den Flügel zum Mißvergnügen des Marquis aus dem Kaminzimmer in den Oberstock tragen lassen und brachte Amadé nun neuere Stücke bei, Ravel und Prokofjew, aber auch Klaviermusik von Schumann und Grieg, die Sonaten von Beethoven, von dem er nie gehört hatte. Er war dankbar und gelehrig, denn sein Stil, ausschließlich an der höfischen Musik des frühen achtzehnten Jahrhunderts gebildet, war verspielt und virtuos, entbehrte aber ein wenig der Tiefe und Zurückhaltung, wie sie in der klassischen und mehr noch der romantischen Musik wesentlich wurde.
    Gegen sieben Uhr holte ihn Minouche zum Abendessen.
    Ich blieb dann allein zurück und hielt stumme Zwiesprache mit der Marquise.
    Um neun wurde Amadé zu Bett gebracht, und kaum war die Comtesse gegangen, entwischte er und tauchte kurz darauf wieder im Spiegelsaal auf. Dann verabschiedete er sich
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