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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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drückende Dunkelheit legte sich auf uns.
    Ich stand auf, um etwas Brennholz in den Kamin zu werfen.
    Die Schatten im hinteren Teil des Saales waren undurchdringlich, das Gemälde, die Möbel und die Spiegel verschwunden. Mir schien, als habe der Saal keine Wände mehr und dehne sich ins Unendliche. Dort hinten, nur ein paar Meter entfernt, begann ein schwarzer Raum, der alles verschlucken würde, was ihm zu nahe kam.
    Plötzlich leuchtete das Bild auf. Eine Sekunde nur. Wie eine Sternschnuppe. Sofort erlosch es wieder. Die Spieluhr auf der Kommode stotterte.
    Ich lief ein paar Schritte in den Saal hinein und hatte auf einmal das Gefühl, daß sich der Boden unter meinen Füßen auflöste.
    Es war nicht zu fassen, ich schwebte!
    Ich war frei und unter und über mir war nichts mehr, was mich hielt.
    Es wurde entsetzlich kalt, aber ich fror nicht, und eine wundersame Reise begann, die eine Ewigkeit zu dauern schien.
    Ich flog in eine schwarze, lichtdurchfunkelte Unendlichkeit und sah Planeten mit ihren Monden, trieb an Asteroiden und Sternennebel vorbei, ich durchmaß das Sonnensystem.
    Als ich mich umdrehte, leuchtete die rote Glut des heruntergebrannten Feuers wie das Licht eines erlöschenden Sterns in der Tiefe des Weltalls.
    Da schob sich eine Gestalt vor dieses Traumbild.
    Der Major war aufgestanden.
    »Wilhelm …?« fragte er vorsichtig ins Dunkel hinein.
    Ich machte einen Schritt auf ihn zu.
    »Oh, da sind Sie ja!« sagte er erleichtert und verlor das Gleichgewicht. Er stolperte, und fast wäre er gestürzt. Er hielt sich an der Lehne seines Sessels fest.
    »Legen Sie etwas Holz nach«, sagte er, »man sieht gar nichts mehr! Ich hole uns noch einen Portwein, diese Flasche hier ist leer.«
    Als wir wieder am Feuer saßen, prostete er mir zu und trank einen großen Schluck des süßen Weins.
    Dann sammelte er sich und nahm den Faden seiner Geschichte wieder auf.
    »ICH SASS MIT DEM MARQUIS noch lange im Kaminzimmer, und die Zeit verging bei angenehmen Gesprächen wie im Fluge. Gegen ein Uhr verabschiedete er sich, und auch ich war müde und ging zu Bett.
    Als ich das Licht löschen wollte, hörte ich leise Musik.
    Irgendwo im Schloß spielte jemand Cembalo. Es konnte nur Amadé sein.
    Plötzlich war ich hellwach.
    Ich fühlte, daß ich das Rätsel seiner unheimlichen Begabung würde lösen können. Ich mußte nur herausfinden, woher diese Musik kam und wer sie mitten in der Nacht spielte.
    Also stand ich wieder auf, zog mich an und verließ mein Zimmer.
    Im Trakt des Schlosses, den die Familie bewohnte, stieß ich auf eine Wendeltreppe, die in einem Turm steil nach oben führte.
    Ich stieg zwei Stockwerke hinauf, lief in einen dunklen Flur hinein und stand plötzlich vor einem Saal, hinter dessen geschlossener Tür deutlich Musik erklang. Neben dem einen Cembalo glaubte ich ein weiteres zu hören und auch die Töne einer Geige.
    Da brach die Musik ab.
    Jemand sang.
    Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte in den Saal …«
    DER MAJOR UNTERBRACH seine Erzählung. Er sah zu der Spieluhr. Doch sie lief regelmäßig, die Musik perlte dahin, und die kleine Porzellantänzerin drehte sich im Kreis.
    Er schien beruhigt, trank einen Schluck Wein und wandte sich mir wieder zu.
    »Es war der Spiegelsaal, derselbe, in dem wir jetzt sitzen, Wilhelm, aber ich glaubte, in das Innere einer Kirche zu blicken.
    Unzählige Kerzen, deren Licht von den Spiegeln noch verstärkt wurde, waren auf dem Fußboden verteilt und brannten in allen Farben.
    Inmitten dieses Meeres aus hüpfenden, tanzenden Flämmchen kniete eine Frau im weißen Gewand einer Nonne. Vor ihr stand eine Schale mit Weihrauch, der in Schwaden durch den Raum zog und einen beißenden Geruch verbreitete.
    Sie sang einen lateinischen Psalm, und ihre Andacht galt offensichtlich dem Bild, das ihr gegenüber an der Wand hing.
    Es zeigte eine herrschaftliche Dame in einem Rokokokostüm, die an einem Spinett saß, sie hielt ein Notenblatt in der Hand und schaute mit mildem Madonnenlächeln auf die Betende herab. Ihre rechte Hand ruhte noch auf der Tastatur des Instruments, als sei sie eben gerade beim Musizieren unterbrochen worden. Sie war von einer solchen Schönheit, daß sie fast den Rahmen sprengte und ich schon in dieser ersten Sekunde, als ich sie sah, meinen Verstand verlor.
    Das Gemälde zeigte aber noch zwei weitere Personen. Einen Mann mit Zopfperücke und im Seidenwams, der eine Geige in der Hand hielt, und ein Kind, das blaß und schüchtern gegen
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