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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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strich?
    Es war die zärtlichste Aufforderung, aber sie duldete keinen Widerspruch, und so führte ich die Frucht gehorsam an den Mund.
    Da packte mich plötzlich jemand von hinten und riß mich mit solcher Gewalt zurück, daß ich zu Boden stürzte und der Granatapfel wie ein leuchtender Ball ins Finstere rollte.
    Über mich hatte sich der schwer atmende Leib einer massigen Frau gebeugt, die mich einen Augenblick anstarrte.
    Es war Séraphine.
    »Monsieur Wilhelm, was machen Sie hier?« stieß sie hervor. »Das dürfen Sie nicht! Sie müssen fort, schnell, schnell, kommen Sie!!«
    Sie packte mich am Handgelenk, zog mich zu sich hinauf und mit großer Kraft in den Wald hinein. Sie zerrte mich hinter sich her, und wir rannten, als wäre uns der Leibhaftige selbst auf den Fersen.
    Mein Herz raste wie wild, die Zweige schlugen mir ins Gesicht, und mehrere Male wäre ich fast gestürzt.
    »Monsieur, schneller, um Gottes willen, laufen Sie, so schnell Sie können!« schrie sie panisch und außer Atem. »Sie kommen schon!«
    Ich sah mich um, und nun bekam auch ich es mit der Angst zu tun.
    Der Wald hinter uns schien in Aufruhr. Als würde ein Feuerwerk im Unterholz abgebrannt, blitzte und funkelte es durcheinander, Lichter sprühten und schossen hin und her, verwandelten sich in wirbelnde Feuergarben, die funkenstiebend in Büsche und Sträucher fuhren und sie prasselnd in Brand setzten.
    Am bedrohlichsten aber waren die Gestalten, die uns flammenlodernd und unter schrillem Geschrei verfolgten. Sie sprangen zwischen den Bäumen hindurch und hüpften wie Feuerbälle über den Waldboden, der sich unter ihren Füßen in ein Meer aus züngelnden Flämmchen verwandelte.
    Mit jedem Sprung kamen sie näher, und plötzlich zischte eine von ihnen wie eine Leuchtkugel über unsere Köpfe hinweg und schlug heulend in einen Baum, dessen Äste und Zweige barsten und durch die Luft flogen, während der Stamm Feuer fing und krachend vor uns auf den Waldweg stürzte.
    Wir wichen aus, liefen nach links und hasteten atemlos vorwärts, bis der Wald plötzlich ein Ende fand und wir auf einer Wiese zum Stehen kamen, die von einigen wenigen Bäumen bestanden war.
    Da sah ich nicht weit vor mir die schwarzen Mauern von Montrague aufragen, dessen Türme und Giebel im Mondlicht schimmerten.
    DAS GESCHREI HINTER UNS Wurde lauter, und wir rannten weiter, durch den nächtlichen Park auf das Schloß zu.
    »Dort hinten, Monsieur!« rief Séraphine plötzlich und zeigte auf etwas in der Ferne. »Sehen Sie das Tor! Schnell, laufen Sie, retten Sie sich, Monsieur Wilhelm, retten Sie sich!!«
    Die letzten Worte hatte sie in höchster Verzweiflung geschrieen, und sie gab mir einen Stoß, der mich nach vorne warf, dann sank sie zu Boden und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
    Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelang, das Eingangstor des Schlosses zu erreichen, denn aus der Entfernung sah ich, daß sich die beiden Flügel langsam schlossen und ich es niemals schaffen würde, rechtzeitig hindurchzuschlüpfen.
    Ein kurzer Blick zurück zeigte mir, daß die feurigen Kreaturen Séraphine erreicht hatten, sie brannte am ganzen Leibe und hatte die Arme hoch in die Luft gerissen.
    Da setzte ich alles auf eine Karte und rannte um mein Leben, erreichte das große eiserne Tor und warf mich mit letzter Kraft durch den kleinen, noch offenen Spalt. Dann fielen die beiden Flügel hinter mir donnernd ins Schloß.
    Der Boden, auf den ich stürzte, gab nach, und ich versank in einem schwarzen Raum, der mich sanft auffing.
    Bald trieb ich traumschwer und ruhig dahin, sah helle Punkte in weiter Ferne, funkelnden Sternen gleich, bis auch dieser letzte Rest meines Bewußtseins erlosch.
    ICH ERWACHTE, WEIL ICH keine Luft mehr bekam. Ich lag auf dem Bauch, mit dem Gesicht nach unten, und hatte den Mund voller Schnee.
    Hustend sprang ich auf, schlug mir mehrmals heftig auf die Brust, beugte mich nach vorn und spuckte alles aus, was in die Luftröhre hineingerutscht war.
    Dann schlug ich mir den Schnee von Hose und Jacke.
    Ich fror.
    Um mich herum war alles weiß, nichts war zu erkennen, und ich dachte für eine Sekunde, ich sei erblindet.
    Als ich mich umwandte, sah ich in der Weite einer leeren, verschneiten Landschaft das Gerippe eines Baumes, aus dessen kahler Krone sich eine Krähe erhob und krächzend in den bleiernen Winterhimmel flog.
    Es war wie Musik in meinen Ohren, denn plötzlich wurde mir bewußt, daß ich lebte.
    Ich hatte das Gefühl, als sei ich von einer weiten
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