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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Autoren: Ulrich Tukur
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Reise heimgekehrt.
    Nur, was sollte ich jetzt tun? Wohin sollte ich gehen?
    Ich wußte weder, wo ich war, noch, um welche Tageszeit es sich handelte. Es hätte Morgen oder auch später Nachmittag sein können.
    Ich konnte nicht einmal mit Gewißheit sagen, ob ich mich im zwanzigsten oder einundzwanzigsten Jahrhundert befand …
    Ich stand auf einer verschneiten Straße, soviel schien sicher, rechts und links ging es jeweils sanft eine Böschung hinunter.
    Aber niemand hatte eine Spur auf ihr hinterlassen, die Schneedecke lag unberührt und endlos vor mir.
    Ich lief in die Richtung, in der die Krähe davongeflogen war.
    HINTER EINEM HÜGEL machte die Straße eine kleine Biegung, und plötzlich sah ich in einiger Entfernung einen schwarzen Fleck. Es dauerte nicht lange, und ich erkannte, daß es ein Auto war.
    Als ich es erreicht hatte, konnte ich mein Glück kaum fassen.
    Da stand das Fahrzeug, das ich am Gare St. Lazare gemietet hatte, zwar mit Schnee bedeckt, aber offensichtlich intakt und unberührt.
    In meiner Jackentasche fand sich der Autoschlüssel.
    Auch mein Portemonnaie und der deutsche Reisepaß waren noch vorhanden.
    Es war verrückt, aber mir schien, als wäre gar nicht viel passiert, als hätte ich mich in dieser schweigenden Schneelandschaft verlaufen, wäre gestürzt, hätte mein Bewußtsein für kurze Zeit verloren, geträumt und wäre wieder aufgewacht, bevor ich erfror.
    Aber da waren diese starken Bilder, die mir nicht aus dem Kopf gingen, viel kräftiger als die Schimären und undeutlichen Gefühle, die einem sonst nach einer durchträumten Nacht blieben: die dunklen Korridore des Schlosses, die farbenprächtigen Gobelins, der Major und sein blasser Schüler, die Marquise an ihrem Instrument und Séraphine, die wie eine Heilige auf dem Scheiterhaufen lichterloh brannte …
    Ich befreite das Fahrzeug vom Schnee und setzte mich hinein.
    Nach einigen vergeblichen Versuchen, den Motor in Gang zu setzen, sprang er an, ich wendete den Wagen und fuhr in die Richtung, aus der ich gekommen war, davon.
    Bald kam ich nach Apremont und Aumont, fuhr weiter nach Senlis, und noch ehe die Nacht hereinbrach, hatte ich Paris erreicht.
    IM HOTEL ZEIGTE MAN SICH besorgt, als ich eintraf. Ich hätte doch gestern schon abreisen wollen, aber da ich nicht mehr aufgetaucht sei, habe man das Gepäck auf dem Zimmer gelassen und meinen Aufenthalt um einen Tag verlängert, in der Hoffnung, daß ich mich melden würde.
    Aber nun sei ja alles in Ordnung und auch nicht weiter tragisch, denn zu dieser Jahreszeit gäbe es immer freie Zimmer.
    Nachdem ich einen neuen Flug für den nächsten Tag gebucht hatte, packte ich meine Sachen zusammen. Dabei fiel mir Jean-Lucs Brief in die Hände.
    Ich betrachtete ihn lange, wendete ihn hin und her und fragte mich, wie ich nur hatte darauf kommen können, einem unbeschriebenen Blatt Papier eine Botschaft zu entnehmen, die Aufforderung nämlich, eine Reise anzutreten, die mich am Ende in eine andere Welt geführt hatte, in ein düsteres Schloß, von dem ich nun nicht mehr sagen konnte, ob es real gewesen oder nur einem Traum entsprungen war.
    Ich zog das Blatt aus dem Kuvert. Ich wußte, daß nichts darauf stand, aber ich wollte es noch einmal ansehen, bevor ich es wegwarf.
    Als ich es auseinanderfaltete, traute ich meinen Augen nicht. Das Papier war von oben bis unten beschrieben mit der gehetzten, unordentlichen Handschrift eines Menschen, der sich in großer Eile befunden hatte.
    Ich setzte mich aufs Bett und las mit klopfendem Herzen.
    »LIEBER WILHELM,
    verzeih, daß ich in jener Nacht einfach fortging und Dir das Ende meiner Geschichte nicht erzählte. Du warst kurz in Dein Hotelzimmer gegangen, ich saß allein auf der nächtlichen Wiese und wurde von einem solch namenlosen Schmerz ergriffen, daß ich es vorzog zu verschwinden.
    Ich habe Dir damals nicht sagen können, was hinter dem Bild geschah. Es hätte mir das Herz gebrochen.
    Natürlich wußte ich, daß ich verloren war, als ich die andere Seite erreichte und am Ende eines prächtigen, sonnendurchfluteten Zimmers diese Frau erblickte.
    Wie eine Sylphide saß sie an ihrem Spinett und spielte eine Melodie, so betörend sanft und zerbrechlich, als hätte ein Traum begonnen, sich selbst zu träumen. Nach einer Weile hielt sie inne und sah mich an.
    ›Da sind Sie ja!‹ sagte sie. Sie schien auf mich gewartet zu haben.
    ›Treten Sie ruhig näher … Sie sind schön, Monsieur!‹
    Dann stand sie auf, neigte ihren Kopf, reichte mir
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