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Die Sehnsucht der Pianistin

Die Sehnsucht der Pianistin

Titel: Die Sehnsucht der Pianistin
Autoren: Ruth Nachtigall Nora Roberts
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möchtest du erst hinaufgehen und auspacken?“ Loretta blieb an der Treppe stehen und hielt sich am Pfosten fest. „Oder hast du vielleicht Hunger?“
    „Nein, danke.“
    Loretta nickte und ging die Treppe hinauf. „Ich dachte, du möchtest vielleicht dein altes Zimmer.“ Sie presste die Lippen zusammen, als sie den Treppenabsatz erreichten. „Ich habe es ein bisschen umgeräumt.“
    „Das sehe ich.“ Vanessa mühte sich um einen gleichmütigen Ton.
    „Aber du hast immer noch den Blick über den hinteren Garten.“
    „Das ist sicher hübsch.“
    Loretta öffnete eine Tür, und Vanessa folgte ihr ins Zimmer.
    Es gab keine aufgeputzten Puppen mehr und auch keine Kuscheltiere. Die Poster waren von den Wänden verschwunden und auch die sorgsam gerahmten Urkunden. Verschwunden war das schmale Bett, in dem Vanessa einst geträumt hatte, und das Pult, an dem sie sich mit französischen Verben und Geometrie abgequält hatte. Es war kein Mädchenzimmer mehr, es wirkte jetzt wie ein Gästezimmer.
    Die Wände waren hell, und vor den Fenstern bauschten sich hübsche Gardinen. An der Wand stand ein breites Bett mit einer pastellfarbenen Tagesdecke und vielen farbenfrohen Kissen. Auf einem eleganten Queen-Anne-Sekretär stand eine Vase mit Freesien, und eine Potpourri-Schale verströmte einen angenehmen Duft.
    Befangen ging Loretta durchs Zimmer, zupfte an der Tagesdecke und wischte ein imaginäres Staubkorn von der Frisierkommode. „Ich hoffe, es wird dir hier gefallen. Wenn du etwas brauchst, musst du es mir nur sagen.“
    Vanessa hatte das Gefühl, in ein vornehmes Hotelzimmer einzuziehen. „Es ist sehr geschmackvoll“, sagte sie. „Es wird mir hier gefallen. Danke.“
    „Gut.“ Loretta verflocht erneut die Finger. Wie gern sie Vanessa berührt hätte! Wie sie sich danach sehnte! „Soll ich dir beim Auspacken helfen?“
    „Nein“, wehrte Vanessa rasch ab. Aber dann rang sie sich ein Lächeln ab. „Ich komme schon zurecht.“
    „Also gut. Das Bad ist gleich nebenan.“
    „Ich erinnere mich.“
    Loretta unterbrach sich und schaute hilflos aus dem Fenster. „Ja … natürlich. Ich bin unten, wenn du irgendetwas brauchst.“ Sie überwand ihre Scheu und legte die Hände um Vanessas Gesicht. „Willkommen daheim.“ Dann ging sie rasch hinaus und schloss die Tür hinter sich.
    Vanessa setzte sich aufs Bett. Ihr Magen zog sich krampfhaft zusammen. Sie presste die Hände darauf und sah sich in dem Zimmer um, das einst ihr gehört hatte. Wie war es möglich, dass die Stadt so unverändert wirkte, während ihr Zimmer ganz anders geworden war? Vielleicht traf das auch auf die Menschen zu. Nach außen hin wirkten sie vertraut, aber im Innern waren sie Fremde geworden.
    Wie sie selbst.
    Wie verschieden war sie von dem Mädchen, das einst hier gelebt hatte. Würde sie sich selbst wiedererkennen? Würde sie das überhaupt wollen?
    Sie trat vor den Spiegel in der Ecke. Gesicht und Figur waren wie immer. Vor jedem Konzert hatte sie ihre äußere Erscheinung einer sorgfältigen Prüfung unterzogen, bevor sie die Bühne betrat. Das erwartete man von ihr. Ihr Haar hatte elegant frisiert zu sein – zurückgenommen oder hochgesteckt, niemals lose herabfallend –, ihr Gesicht dezent geschminkt und ihr Kleid von unauffälliger Eleganz. Das war das Image der Vanessa Saxton. Jetzt war ihr Haar ein wenig windzerzaust, aber nun sah sie ja auch niemand. Ihr Haar war von dem gleichen satten Braun wie das ihrer Mutter, nur etwas länger. In der Sonne leuchtete es manchmal feurig auf, und im Mondschein schimmerte es weich. Um die Augen wirkte sie ein wenig müde, aber das war kein Wunder. Sie hatte am Morgen sorgfältig Make-up aufgelegt, sodass noch eine Spur Rouge auf den Wangen und ein Hauch Lippenstift auf ihrem Mund war. Sie trug ein pinkfarbenes Kleid mit engem Jäckchen und weitem Rock. In der Taille war es ein bisschen locker, aber ihr Appetit war auch nicht der beste gewesen.
    Aber all das war nur ein Teil ihres Images – die selbstbewusste, gelassene und sichere Erwachsene. Sie wünschte, die Zeit zurückdrehen und sich selbst noch einmal als Sechzehnjährige sehen zu können, voller Hoffnung, trotz der Probleme, die das Familienleben überschatteten. Und voller schöner Träume und Musik.
    Seufzend wandte sie sich ab, um auszupacken.
    Als Kind war ihr Zimmer ihr Reich und ihre Zuflucht gewesen. Aber sie war kein Kind mehr. War sie nicht nach Hause gekommen, um das Band zu ihrer Mutter neu zu knüpfen? Das war kaum
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