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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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lassen. Dann war ihm Johan Whisper eingefallen und dieser unstillbare Durst war aufgekommen.
    Der Schreiber rückte auf seinem Stuhl hin und her, er schnitzte an der Feder. Jetzt hörte man den Gefangenen wimmern, von unten durch das Fensterchen herauf. Er bettelte um Wasser. Thomas stellte den Trinkkrug entschieden auf den Tisch zurück und hustete. Aber er hustete nur, um das Gewimmer nicht zu hören. Er war verwundert über sich.
    Woher rührte diese plötzliche Empfindlichkeit? Er ging zu dem Fensterchen und horchte, schloss die Augen. Es war wie seinerzeit mit Johan Whisper, als er sich gegen die Gefühle hatte stemmen müssen und fest und unerbittlich blieb, was schließlich seine Pflicht gewesen war. Aber Johan hatte er gehasst, weil der ihn angegriffen hatte. Dieser hier war ihm als Mensch egal, nicht aber als Gefangener, als Schuldiger am Tode dieser Schüler.
    »Sir?« Der Sekretär erhob sich. Thomas beugte sich zum Fensterchen herunter. Hinter den Gitterstäben in der Tiefe war nichts zu sehen, nicht mal eine Fackel brannte in der Hölle.
    »Die Vernehmung ist beendet«, stellte Thomas fest. Er trat zum Tisch, ließ sich die Mitschrift aushändigen und las.
    Ich, Aron Marcus Gilbert Boggis, wurde 1488 in Deal am Meer geboren. Meine Eltern waren Ben und Juliette Boggis. Mein Vater arbeitete als Sporenschmied. Ich besuchte das St. Michael’s Konvikt in Catham, danach ging ich zu einem Sattler in die Lehre und führte später viele Jahre lang bis heute eine Themsefähre. Im Jahre 1515 erhielt ich die Gelegenheit, für Lord Parnwell als Hausverwalter in Ely tätig zu werden, wo ich Sir Robert Nash kennen lernte, der mich eines Tages sehr zu meiner Überraschung unserem König vorstellte. Durchaus auf dessen hohen Wunsch. Was mich schnell beunruhigen musste, weil der König alsbald mit mir unter vier Augen sprechen wollte. Jedermann hätte in meiner Lage Angst gehabt. Der König lobte mein Betragen, meine äußere Erscheinung und trug mir auf, ausgestattet mit Vollmachten, Pässen und diplomatischen Papieren, Europa zu bereisen, um herauszufinden, welche jungen Damen die fremden Höfe anzubieten hatten. Das tat ich jahrelang und unentdeckt, bis mir der König eines Tages seltsam verändert gegenübertrat. Er saß krumm auf seinem Stuhl und schwieg beharrlich. Dann verriet er mir, sehr im Vertrauen, dass ihm im Traum der Doktor Luther erschienen sei und Gott an dessen Seite. Der König weinte, als er das erzählte. In diesem Traum habe Gott zu ihm gesprochen wie einst zu Abraham. Dann sprach der König mit mir. Was denkst du, Aron, fragte er, wie sehr bedarf ein junger Mensch der Hilfe unseres Herrn? Wie stark ist eine unberührte Seele, wenn sie erfährt, dass Gott nur Schwindel sei, ein Wiegenlied für Kinder? Kurz darauf erhielt ich diesen Auftrag. Das Ziel war es, zu zeigen, dass ohne Gott ein Mensch zugrunde geht. Die Herren, die mir diesen Auftrag gaben, blieben für mich anonym. Ich sollte Schüler finden und ihnen sagen, dass jeder Glaube sinnlos sei, weil Gott nicht existiere. Das habe ich getan. Aber die Schüler widerstanden meinen Worten, sie töteten sich nicht, kein einziger von ihnen. Die Herren waren nicht zufrieden. Sie fragten mich, ob mir bewusst sei, dass schon ein einziger Schülerfreitod belegen würde, dass Gott der Herr im Himmel sei. Jetzt wurde mir bewusst, wie wichtig diese Sache war. Man wollte Gott beweisen. Von mir hing alles ab. Ich fragte mich, was denn entscheidend sei: ob ein paar Schüler weiterleben oder die ganze Menschheit Gott verliert. Ich suchte also Schüler. Ein Lehrer des New Inn bot seine Dienste an und half mir, sie zu finden…
    Thomas las nicht weiter und warf das Papier dem Schreiber auf den Tisch zurück. Dann gab er einem Wachposten den Befehl, ihm den Weg in das Verlies zu weisen, wo Aron Boggis wimmernd lag. Die Wache starrte ihn ungläubig an. Ob er es wirklich wagen wolle. Thomas schlug dem, der fragte, ins Gesicht und schrie ihn an. Der Mann sprang weg. Er bat ihn um Entschuldigung und führte ihn mit »Bitte sehr« und »Hier entlang, Sir« in den Keller des Gebäudes.
    Es wurde dunkel. Der Mann besorgte eine Fackel, das Licht gespensterte umher. Als der Soldat die Tür entriegelte, befahl Thomas ihm, einen Krug Wasser herzubringen. Der Mann gehorchte. Thomas war mit dem Gefangenen allein. Er sah nichts als ein dunkles Bündel am nassen Boden liegen, das Wimmern hatte aufgehört. Thomas trat näher heran, der Gestank war unerträglich, die Feuchtigkeit
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