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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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prüfte ihre Mienen. Sie wirkten in derselben Weise sicher und erwachsen, wie er es bei Margaret soeben wahrgenommen hatte. Es war ein anderer Ernst, als er ihn kannte, nicht einfach gottesfürchtig und blind dem König zugewandt oder aus Achtung vor der Würde eines unsichtbaren Höheren. In den Gesichtern dieser Jungen leuchtete ein neuer Stolz, ein eigenes Selbstbewusstsein, als ob man diesen Kindern eine stärkere Gewissheit der eigenen, unteilbaren Kraft gegeben hätte. Sie saßen da und forderten von ihm, dem Vater, dem Unterschatzkanzler Seiner Majestät des Königs, der so viel Macht in seinen Händen hatte, ein Menschenrecht, das sich weder um Besitz, um Stand, um Macht und Geltung noch den gesellschaftlichen Leumund kümmerte, im Gegenteil, das diese Dinge frech als Werkzeug für die eigenen Ziele nutzte. Er schüttelte den schweren Kopf.
    »Ich bin zutiefst enttäuscht, mein Kind. Wir sind in meinem Haus, an meinem Tisch, wir atmen meine Luft, mein Wissen hat dich klug gemacht, weil ich mir die Mühe machte, dich zu unterrichten, dich in diese Welt zu führen, die feindlich ist und einem Mädchen keine Bildung zugestehen will. Ich habe dich ernährt, ich habe dich deine Kleidung wählen lassen, ich habe alle väterliche Liebe aufgebracht, die sich ein Kind nur wünschen kann. Und weil ich einmal fehlbar war und schwach, drohst du mir mit dem Tod.«
    Margaret verlor die Farbe.
    »Denkst du, es wäre nicht mein Tod in der Gesellschaft, wenn alle Welt erführe, dass der Unterschatzkanzler…«
    »Gregor Gascoigne, verehrter Vater, ist wirklich tot, er lebt nicht mehr.«
    Thomas gab ihr Recht, aber es fiel schwer. Als müsste er sein Innerstes offenbaren vor diesen Kindern!
    »Für die Gerechtigkeit sorgt unser König«, sagte er, »er ist die Gerichtsbarkeit, er ist das Gesetz und auch die Gnade…« Er merkte, dass er so nicht weiterkam. »Es ist sehr schwierig, eine am Hof angesehene Persönlichkeit dem Richter zuzuführen.«
    »Es ist Ihre Aufgabe, Vater. Sie leiten eine Kommission, die sich zu diesem Zweck zusammenfindet«, sagte Margaret.
    »Der König fällt das Urteil.«
    »Der König hat Berater, er hat Sie und viele andere, die täglich Sorge tragen, dass er das Gute tut für alle Menschen.«
    »Ja«, sagte Thomas und erkannte seine Stimme nicht. »Aber Boggis ist Agent, eine sehr schlangenhafte Position.«
    »Wir schwören, dass wir im Falle Ihrer guten Hilfe schweigen werden, sowohl was Andrews Vater angeht als auch den Lehrer Clifford. Ihm will Andrew auch Gewalt antun, so lange, bis er vor Zeugen aussagt, dass nicht Andrew ihn, sondern er Andrew töten wollte in jener Nacht.«
    Thomas holte Luft. »Ich kenne keinen Clifford.«
    »Sie haben ihn in der Kommission getroffen«, sagte Margaret.
    »Das kannst du gar nicht wissen.«
    »Ich weiß es aber, Vater.« Sie wischte sich die Tränen ab. Sie drehte sich herum, bestimmt damit er sie nicht ansehen konnte. Dann sagte sie: »Ich bin enttäuscht. Sie waren immer gütig. Niemals hätte ich geglaubt, dass Sie mich so wie andere Väter an irgendeinen Mann vergeben werden, auch wenn dieser Mann ein braver Anwalt ist und vielleicht gut für eine Frau. Ich bin Ihr Kind. Sie müssen sich doch sorgen, dass ich glücklich werde, ist das nicht höchste Vaterpflicht?« Sie wandte sich ihm wieder zu.
    Er streifte ihren Blick und suchte nach dem Ausweg, der beides möglich machte: vor sich selbst zu bestehen und Margarets Liebe nicht zu verlieren. Er war verzweifelt, aber er scheute sich, es vor sich selber zuzugeben. Es war viel leichter, so zu tun, als habe er wie sonst die Macht in diesem Zimmer.
    »Selbst wenn alles, was du sagst, die Wahrheit ist, kann ich nicht handeln, wie du es von mir verlangst. Ich bin ein Diener unseres Königs und als solcher nicht befugt…«
    »Dann handeln wir«, sagte Margaret. Die Art, wie sie ihn ansah, war so bitterkalt, dass er innerlich zusammenfuhr.
    »Nein!«, sagte er laut und grob und stand von seinem Stuhl auf. »Ich bin der Herr in diesem Haus. Ich muss Sie bitten, meine Herren… Es tut mir Leid. Ich kann nichts für Sie tun.« Er raffte die Schöße seines Mantels zusammen, ging zur Tür und öffnete. Er wartete, bis alle aufgestanden waren. Die Verhandlung war vorbei. Er hatte seinen Willen durchgesetzt. Wie immer.
    »Verehrter Vater«, sagte Margaret. »Sie müssen es verstehen, wenn ich an dieser Stelle nicht zu Hause bleiben kann. Ich folge meinen Freunden. Ich widersetze mich dem Willen meines Vaters…« Sie
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