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Die Seelenpest

Die Seelenpest

Titel: Die Seelenpest
Autoren: Jürgen Seidel
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falschen gehen, gefährden wir die ganze Welt…«
    »Aber wenn du nun mal weißt, dass du genauso falsch gegangen bist«, wandte Alice ein.
    »Ich bin ihr Vater.«
    »Ja, ja!« Sie schwieg bedeutsam. Er schielte zu ihr hin. Dann sagte sie, ironisch: »Sie ist die Tochter!«
    »Genauso ist es.«
    »Und sie ist erwachsen.«
    »Nein, eben nicht!«, rief er.
    »Ich glaube, eben doch. Das willst du bloß nicht einsehen, weil es dir missfällt. Begreif doch endlich, dass du eine sehr kluge Tochter hast, die denken kann und unsere Welt durchschaut. Du kannst ihr nicht mit Normen und mit Formen kommen. Das genügt ihr nicht.«
    Er sagte nichts.
    »Du hast doch sicher schon getan, was sie verlangt, ich kenn dich doch. Ich trau dir zu, dass du dich längst mit allem abgefunden hast und hier nur Lärm machst, um zu stänkern.«
    »Halts Maul!« Er dachte nicht im Traum daran, ihr irgendwas zu sagen.
    Natürlich hatte er gehandelt und die Gerechtigkeit erzwungen, zumindest in dem schlimmeren Fall, zu seiner eigenen Sicherheit: Er hatte durchgesetzt, dass Clifford nicht mehr unterrichten durfte. Er hatte Doktor Furges mit nackter Macht dazu gezwungen, der ihm nach langem Hin und Her versprochen hatte, dass Clifford sein Präzeptoramt verlor, für immer.
    »Sag schon!«
    »Nichts.«
    »Feigling!«
    »Sieh dich lieber vor!« Er hasste sie. Die Alte war so frech, dass man sich vor den Mägden schämen musste! »Sieh lieber zu, dass dieser Hasenfuß bald gar ist!« Er drehte sich zur Tür. Als er hinausging, traf er ihren Blick.
    »Bitte!«, fügte er hinzu und schloss die Küchentür.
     
     
    R ASPALE SASS HOCH OBEN AN SEINEM G AUBENFENSTER und beobachtete die Elstern, als es klopfte und die Stubentür geöffnet wurde.
    Thomas trat ein, nickte dem Alten zu und sagte: »Mein lieber Freund, wir müssen ein paar Worte miteinander wechseln. Der Ort hier oben lohnt sich, da haben wir die ganze Welt im Blick.«
    »Zephania, Sir Thomas«, begrüßte Raspale ihn.
    Thomas trat ein. »Du weißt, was vorgefallen ist, Raspale. Margaret ist mit diesen Schülern aus dem Haus gelaufen. Sie will mich zwingen, meinen Einfluss für ihre Sache einzusetzen… Nein, falsch herum: Sie hat eine Sache, eine Forderung, die ich zu meiner eigenen machen soll. Es widerstrebt mir aber. Leider habe ich mich selbst nicht klug verhalten, auch das weißt du bereits. Und du verstehst ebenfalls, dass es für mich nicht üblich ist, mich schuldig zu bekennen, selbst wenn ich Unrecht tue. Meine Position bewirkt, dass jedermann es ignoriert, bis auf den König.«
    Raspale nickte Thomas freundlich zu.
    »Es geht nicht um Gerechtigkeit, wie Margaret sagt. Es geht darum, dass die Prinzipien nicht geschädigt werden. Sie weigert sich, mich zu verstehen.« Er zeigte zu dem Fenster hin. »Dort draußen wäre niemals Frieden, wenn es keinen Adel gäbe, der das Volk regiert, der an der Spitze steht wie Gott im Himmel, der uns in seiner grenzenlosen Güte durch das Leben führt.«
    »In seiner grenzenlosen Güte«, wiederholte Raspale. Und noch einmal: »Grenzenlose Güte…!« Er ging vom Fenster weg und holte seinen Folianten. Er schlug ihn auf. »Sehen Sie, Sir Thomas. Das ist mein ganzes Leben, meine Liebe und mein Glauben.«
    »Ich beneide dich so sehr«, sagte Thomas. »Weil du nichts anderes als Ziel vor Augen hattest als diese schwerelosen Flügelchen. Sie sind dein Glück und nicht die hundert anderen Dinge, die unser Leben immer schwerer machen.«
    Raspale blätterte.
    »Hör zu, du Narr. Ich habe meiner Tochter schon geholfen. Du siehst also, was grenzenlose Güte ist. Dieser Präzeptor Clifford unterrichtet niemanden mehr. Aber Doktor Furges ist nicht ganz auf meiner Seite; er glaubt mir nicht, dass Andrew Whisper nur das Opfer war. Mir wäre es lieb, er hätte Recht. Also hat er mir Bedingungen gestellt, um die du dich jetzt kümmern musst, wenn wir die Kinder retten wollen. In die Schule kann der Unglücksjunge nicht zurück; Furges besteht darauf, ihn vor Gericht zu stellen. Ich bin schon froh, dass er Clifford aus dem Dienst genommen hat. Der Junge muss verschwinden, unauffällig. Wenn es mir nicht gelingt, ihn aus der Stadt zu bringen, verliere ich mein Töchterlein für immer. Es sind ihre Worte. Ich frage mich: Woher nimmt das Kind die Macht, mich spielend zu besiegen?«
    »Sie schöpft sie aus der grenzenlosen Güte ihres Vaters, Sir«, sagte der Alte und zeigte auf einen großen Stern aus elf Libellenflügeln. »Und weil sie selber diese Güte in der Seele
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