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Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn

Titel: Die Schweigende Welt Des Nicholas Quinn
Autoren: Colin Dexter
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gab, die besonders dafür geeignet waren, einen Fußball zu kicken oder Klavier zu spielen, hatte er eben die Begabung, anderen Menschen die Worte von den Lippen abzulesen. So einfach war das. Inzwischen hatte er sich darin so vervollkommnet, daß er sich manchmal einbilden konnte, wieder richtig zu hören. Ganz hatte er sein Hörvermögen ja auch noch nicht verloren. Die teure Hörhilfe am rechten Ohr (links war er völlig taub) verstärkte den Ton aus nächster Nähe so weit, daß er deutlich verstand, wie Voss, dem gerade die Schnecken serviert wurden, bemerkte:
    »Wie sagte der alte Sam Johnson doch gleich? ›Wer keine Rücksicht auf seinen Bauch nimmt, dem ist auch sonst keinerlei Rücksicht zuzutrauen.‹ Oder so ähnlich.« Er stopfte sich eine Serviette in den Hosenbund und fixierte den Teller wie Dracula, der sich daranmacht, seine Zähne in eine Jungfrau zu schlagen.
    Der Wein war gut, und Quinn hatte genau darauf geachtet, wie Voss ihn handhabte. Wunderbar machte er das, wirklich. Nachdem er sich in das Etikett vertieft hatte wie ein zurückgebliebenes Kind, das versucht, in die Geheimnisse des Alphabets einzudringen, testete er die Temperatur des Weins, indem er leicht und liebevoll die Hände um den Flaschenhals legte. Dann, als der Ober einen Zentimeter des rubinroten Saftes in sein Glas gegossen hatte, kostete er ihn nicht etwa, sondern erschnupperte vier- oder fünfmal argwöhnisch das Bukett wie ein dressierter Schäferhund, der nach Dynamit fahndet. »Nicht übel«, sagte er schließlich. »Schenken Sie ein.«
    Quinn merkte sich die Prozedur, so würde er es beim nächstenmal auch machen. »Und drehen Sie das verdammte Gedudel ein bißchen leiser«, brüllte Voss, als der Ober sich zurückzog. »Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen.« Die Musik wurde um einige Dezibel zurückgenommen, und ein einsamer Esser von einem der benachbarten Tische kam herüber und bedankte sich. Quinn selbst hatte die Hintergrundmusik gar nicht wahrgenommen.
    Als schließlich der Kaffee kam, fühlte sich Quinn ausgeglichener, aber auch ein bißchen schwummerig. Er wußte nicht mehr genau, ob nun Richard III. am Ersten Kreuzzug oder Richard I. am Dritten Kreuzzug teilgenommen oder ob überhaupt ein Richard bei einem der Kreuzzüge mitgemischt hatte. Das Leben war plötzlich wieder eine schöne, runde Sache. Er dachte an Monica. Vielleicht ging er mal bei ihr vorbei, nur ganz kurz, ehe die Nachmittagssitzung anfing. Monica … Es lag wohl am Wein.
     
    Zwanzig vor drei trafen sie wieder in der Geschäftsstelle des Verbandes ein, und während die anderen gemächlich zum Sitzungszimmer hinaufstiegen, ging Quinn rasch den Gang entlang und klopfte leise an die hinterste Tür rechts, auf deren Schild der Name MISS M. M. HEIGHT stand. Er machte versuchsweise die Tür auf und sah hinein. Das Zimmer war leer. Aber unter einem Briefbeschwerer auf dem aufgeräumten Schreibtisch lag gut sichtbar ein Zettel, und er trat näher, um ihn zu lesen. »Bin bei Paolo. Um drei zurück.« Das war typisch für den Umgang hier im Büro. Bartlett störte es nicht, wenn seine Mitarbeiter kamen und gingen, wie sie wollten, sofern ihre Arbeit nicht liegenblieb. Allerdings bestand er strikt darauf (es war fast schon ein Tick), daß alle ihm stets hinterließen, wo sie zu erreichen waren. Monica ließ sich also ihr prächtiges Haar coiffieren. Auch nicht weiter schlimm, er hätte sowieso nicht gewußt, was er sagen sollte. Vielleicht war es sogar besser so, morgen früh sahen sie sich ja ohnehin wieder.
    Er ging zu den anderen in den Sitzungsraum, wo Cedric Voss in seinem Sessel lag, die Augen halb geschlossen, ein stupides Grinsen auf den schlaffen, schläfrigen Zügen. »Wenn ich bitten darf, meine Herren … Könnten wir wohl versuchen, den Hannoveranern unsere Aufmerksamkeit zu schenken?«

2
     
    Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten radikale Reformen in Oxford eingesetzt, und bis zur Jahrhundertwende waren durch zahlreiche Kommissionen, Gesetze und Verordnungen Änderungen eingeleitet worden, die das Leben in Stadt und Universität von Grund auf verändern sollten. In die Lehrpläne der Hochschule wurden die aufstrebenden Naturwissenschaften und neuere Geschichte aufgenommen. Das unter Benjamin Jowett in Balliol entstandene hohe akademische Niveau wurde allmählich auch in den anderen Colleges eingeführt. Die Einrichtung von Lehrstühlen brachte zunehmend Gelehrte von internationalem Ruf nach Oxford. Die Säkularisierung der
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