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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle
Autoren: Batya Gur
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plötzlich aufgeregt. »Er macht das Tor zu und geht den Hang hinunter.«
    Ich nahm ihr das Fernrohr ab und mit halbem Ohr hörte ich, wie Hirsch zu meinem Vater sagte: »Ich kam vom Schiff in Haifa und dachte, neues Land, wo? Ich sah, alles wie immer … Juden. Geschrei. Juden können nicht …«
    »Was können sie nicht«, fragte mein Vater.
    »Nicht ruhig leben«, sagte Hirsch und warf mir einen Blick zu.
    »Er ist schon unten«, sagte ich und stand auf.
    »Kein Grund zur Eile«, sagte mein Vater, nachdem ich ihm das Fernrohr gegeben hatte. »Wir warten, bis er an der Straße ist.«
    Wir waren nicht sicher gewesen, ob Benji von sich aus das Haus verlassen würde oder ob ihn der Große mit der Maske herauszerren würde, deshalb hatten wir das Auto unten stehen lassen. Auch das war eine Idee meines Vaters gewesen. Hirsch hatte sie sofort akzeptiert. Sie waren sich in allem einig: Auch wenn wir Benji an diesem Abend nicht finden würden, müssten wir mit seinen Eltern sprechen. »Eine Sache von Verantwortung«, sagte Hirsch und mein Vater stimmte sofort zu.
    Ich widersprach nicht. Mir war auf einmal klar, dass alles, was ab jetzt passierte, nur gut sein konnte. Seltsam, aber so dachte ich. Nein, ich dachte es nicht, ich war sicher. Ich konnte mich sogar über den Geruch der Luft freuen. Ich hörte, wie mein Vater Hirsch erzählte, dass es zwei Friedhöfe in Ein-Kerem gab. Einer war der muslimische Friedhof, er lag neben der Hauptstraße. Viele Grabsteine waren schon halb zerfallen und die Stadtverwaltung hatte seit Jahren versprochen, ihn wieder herzurichten, aber dazu war es noch nicht gekommen. Der zweite war der von der Kirche der Heimsuchung, auf dem Weg zur Quelle. Ich hörte genau zu, als er von dieser Kirche erzählte, die von Franziskanermönchen gegründet worden war. Genau an der Stelle soll, nach christlicher Überlieferung, das Sommerhaus von Elisabeth und Zacharias gewesen sein, den Eltern von Johannes dem Täufer. Joli fragte, wer das war, Johannes der Täufer. Mein Vater erklärte ihr, dass er einer der wichtigsten Heiligen der Christen ist. Als Maria, die Mutter von Jesus, Elisabeth besuchte, erzählte mein Vater, war sie schon schwanger. Und in ihrem Bauch hörte Jesus, wie Elisabeth ihre Schwester segnete, und er tanzte vor Vergnügen. »Weißt du«, sagte mein Vater zu mir, »du hast auch so gern im Bauch getanzt.«
    »Ich nicht«, sagte Joli. »Meine Mutter hat gesagt, ich war so ruhig während der ganzen Schwangerschaft und auch nachher, dass ich vielleicht deshalb jetzt eine Trompete brauche.«
    Mein Vater sagte, die Geschichte von Elisabeth und Zacharias stünde im Neuen Testament, er gab sogar die Stelle an, und ich sah, dass Hirsch ihm einen anerkennenden Blick zuwarf.
    Jetzt war es Zeit, dass wir uns auf den Weg machten. Es war dunkel, auf beiden Seiten der Straße brannten die Laternen. Ich erinnerte mich nicht mehr, sie gestern gesehen zu haben.
    Wir liefen in einer Reihe, schnell und ohne zu reden. Mein Vater führte die Gruppe an, ich und Joli folgten, Hirsch ging als Letzter. Ich passte meine Schritte denen meines Vaters an. Manchmal hätte ich am liebsten seine Hand genommen, um mich zu versichern, dass er noch da war. Und zwei- oder dreimal fuhr mir ein Gedanke wie ein Stich durch den Körper: Wenn es so leicht war, wieder wie früher zu sein, warum hat er uns dann bis heute gequält? Ich schob den Gedanken jedes Mal schnell beiseite, ich wollte nicht mehr böse auf ihn sein, noch nicht mal ein bisschen.
    Mein Vater drehte sich um und legte die Hand auf den Mund. Aber es sagte ohnehin keiner was. Doch nun sahen wir Benji. Er ging vor uns, die Straße entlang, die hinunter zur Quelle führt. Wir achteten sorgfältig darauf, Abstand zu ihm zu halten, sodass immer eine Biegung zwischen ihm und uns lag und er uns nicht entdecken konnte, auch wenn er sich umdrehte. Das Problem fing bei den Treppen an. Es waren sehr viele Treppen, und zu weit hinter ihm zurückbleiben wollte ich nicht, aus Angst, wir könnten ihn wieder verlieren, wie bei den beiden letzten Malen. Das war mir zu gefährlich.
    Als wir die Treppen erreicht hatten, trat mein Vater zur Seite und bedeutete mir, vorzugehen. Ich lief los, achtete aber darauf, den Abstand zu Benji zu wahren. Ich sah seinen Rücken, gebeugt unter dem Rucksack, und seine kurzen Beine, die eine Stufe nach der andern nahmen. Rund und dick kamen sie aus seiner weiten Turnhose heraus. Bedauernswert sahen sie aus, diese Beine, weiß und teigig, ohne
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