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Die schwarze Feder

Die schwarze Feder

Titel: Die schwarze Feder
Autoren: Heyne
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Hausmeister deponiert.
    Obwohl Howie immer den Riegel der nach draußen führenden Tür vorlegte, wenn er das Dach verließ, war dieser jetzt offen. Offenbar hatte er ihn bei seinem letzten Besuch zu schließen vergessen. Er öffnete die Tür und trat hinaus in den Sonnenschein.
    Das grau geflieste Dach war nicht völlig flach, sondern hatte eine leichte Neigung, damit das Regenwasser zu der Rinne vor der Brüstung hin abfließen konnte. Diese Brüstung hätte einem erwachsenen Mann bis zur Taille gereicht, aus Howies Sicht war sie entsprechend höher. In jeweils einem Meter Abstand war sie von breiten Spalten durchbrochen, sodass sie aussah wie die Zinnen einer Burg. Dort hätten sich Bogenschützen postieren können, um das Gebäude gegen Barbaren zu verteidigen.
    Howie bezweifelte, dass Boswell’s je von Barbaren angegriffen worden war. Schließlich war es nur ein kleines Warenhaus. Deshalb hatte man hier bestimmt auch keine Bogen- oder Scharfschützen mit eiskaltem Blick postiert. Die aus Ziegeln gemauerte Brüstung mit ihren Schlitzen sollte also bloß gut aussehen, aber cool war sie trotzdem. Kein Gebäude in der Stadt war höher als dieses, nicht einmal das neue Geschäft von Boswell’s. Howie konnte sich vor eine der Spalten knien und vorbeugen, um zu beobachten, wie die Leute in den Läden und Lokalen auf der Maple Street ein und aus gingen. Er stellte sich vor, wie sein Leben hätte sein können, wäre er nicht so anders gewesen als sie.
    Als er um die Ecke des Schuppens bog, sah er einen Wachposten an der Brüstung sitzen und durch eine der Spalten auf die Stadt hinunterblicken. Obwohl Howie sich leise bewegte, drehte der Posten den Kopf, um zu sehen, wer sich da zu ihm gesellte, und in diesem Moment erkannte der Junge, dass sich ein Monster mit ihm auf dem Dach befand.
    Etwa zehn Meter voneinander entfernt, verharrten die beiden einen Augenblick lang totenstill und starrten sich an. Trotz seiner Verblüffung kam Howie die Begegnung irgendwie vertraut vor, so als hätte er schon von ihr geträumt und den Traum nur wieder vergessen oder als hätte er vorhergesehen, dass sie sich einmal ereignen würde. Andere Jungen wären wohl davongerannt, aber Howie rannte nicht mehr davon, weil er wusste, dass man dabei ums Leben kommen konnte. Langsam, Schritt für Schritt, verringerte er den Abstand um die Hälfte, bevor er mit halb abgewandtem Gesicht stehen blieb und den Fremden hauptsächlich mit dem rechten Auge betrachtete.
    Das kurze, fettige Haar des Mannes war zu Nestern verfilzt, die so sehr wie verknäuelte Spinnen aussahen, dass Howie sich nicht gewundert hätte, wenn einige davon sich plötzlich zuckend von ihrer Umgebung gelöst hätten, um an andere Stellen auf dem missgestalteten Schädel zu krabbeln. Die Augenbrauen waren dicht und struppig, doch das Gesicht war so bartlos wie das eines Kindes; an manchen Stellen sah die Haut zu rosa aus, anderswo gespenstisch bleich. Überall war sie so glatt und unnatürlich wie die porenlose Kunststoffoberfläche einer Schaufensterpuppe. Unter der versteinerten Fläche einer rohen Stirn glommen tiefliegende Augen, schwarz und wachsam wie die eines Raben. Dazu passte die scharfe Hakennase. Die Proportionen des Gesichts schienen verzerrt; an manchen Stellen waren die Knochen zu spitz, an anderen zu dick und stumpf. Die Oberlippe war schmal und farblos, die Unterlippe purpurfarben und zu dick, die Zähne waren gelb und schief.
    »Hab keine Angst«, sagte der Fremde mit einer Stimme, die tief und heiser war wie die Stimmen von Ungeheuern in Filmen. »Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Ich bin nicht das, wonach ich aussehe.«
    Howie näherte sich dem Mann bis auf drei Meter, bevor er erneut stehen blieb, von einem Staunen ergriffen, als wäre er einer Zaubergestalt begegnet. »Wo kommen Sie her?«, fragte er. »Was machen Sie hier?«
    »Ist das etwa dein Dach? Bin ich unbefugt hier?«
    »Das ist nicht mein Dach«, sagte Howie.
    »Tja, dann sind wir wohl beide unbefugt hier.«
    »Kann schon sein.«
    Obwohl der Mann auf dem Boden saß, sah Howie, dass er bestimmt fast zwei Meter groß war und hager wie eine Vogelscheuche, aber stark. Riesige Hände. Knochige Handgelenke, die aussahen wie die unförmigen Gelenke alter Maschinen. Lange Arme. Seine Schulterblätter schienen nicht normal geformt. Sie wölbten den Stoff des Khakihemds, als befände sich darunter ein Buckel.
    »Hab keine Angst«, wiederholte der Mann. »Mein Name ist Alton Turner Blackwood. Wenn ich dir
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