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Die Schuld

Titel: Die Schuld
Autoren: John Grisham
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Jahre ins Land gegangen. Manchmal saß er nur an seinem Schreibtisch, starrte die Wände an, die von Monat zu Monat näher zu rücken schienen, und fragte sich, wie um alles in der Welt er in diesem Kabuff gelandet war.
    Er warf Tequila Watsons Akte auf seinen sauberen, aufgeräumten Schreibtisch und zog das Jackett aus. In dieser trostlosen Atmosphäre war die Versuchung groß, das Büro zu vernachlässigen. Unordnung, aufeinander getürmte Akten und hohe Papierstöße wären jederzeit durch die extreme Arbeitsbelastung und fehlendes Personal zu entschuldigen gewesen.
    Aber sein Vater hatte immer gesagt, ein aufgeräumter Schreibtisch lasse auf ein gut funktionierendes Gehirn schließen. Wenn man nicht in der Lage sei, etwas innerhalb von dreißig Sekunden wiederzufinden, müsse man mit finanziellen Verlusten rechnen. Eine weitere unumstößliche Regel, die zu befolgen er Clay gelehrt hatte, besagte, dass anfallende Rückrufe sofort getätigt werden sollten.
    Folglich war Clay eifrig darum bemüht, Schreibtisch und Büro aufgeräumt zu halten, was bei seinen eher schlampigen Kollegen für Erheiterung sorgte. In der Mitte einer Wand hing das gerahmte Abschlusszertifikat der juristischen Fakultät der Georgetown-Universität. Zwei Jahre lang hatte er das gute Stück in der Schublade gelassen, aus Furcht davor, dass seine Anwaltskollegen fragten, warum ein Absolvent von Georgetown für ein so lausiges Gehalt arbeite. Weil man Erfahrungen sammeln muss, sagte sich Clay. Ich arbeite hier, um Erfahrungen zu sammeln. Jeden Monat ein Prozess - harte Prozesse gegen harte Staatsanwälte vor harten Jurys. Umgang mit den Unterprivilegierten aus der Gosse, den ihm keine große Kanzlei bieten konnte. Geld würde er später verdienen, als im Kampf gestählter und immer noch sehr junger Anwalt.
    Während er auf die dünne Watson-Akte starrte, die fein säuberlich genau in der Mitte seines Schreibtischs lag, dachte Clay erneut darüber nach, wie er diesen undankbaren Job einem Kollegen aufhalsen konnte. Allmählich hatte er die Nase voll von der exzellenten praktischen Ausbildung, den schwierigen Fällen und all den anderen unsinnigen Aufgaben, mit denen man sich als unterbezahlter Pflichtverteidiger gewöhnlich abfinden musste.
    Sechs Zettel auf seinem Schreibtisch informierten ihn darüber, dass er sechs Rückrufe tätigen musste, fünf davon geschäftlicher Natur. Doch zuerst rief er seine langjährige Freundin Rebecca an.
    »Ich habe wahnsinnig viel zu tun«, sagte Rebecca, nachdem sie die obligatorischen einleitenden Nettigkeiten hinter sich gebracht hatten.
    »Du hast mich angerufen«, erinnerte Clay sie.
    »Ja, aber jetzt habe ich trotzdem nur eine Minute.« Rebecca arbeitete als Assistentin für einen Hinterbänkler aus dem Kongress, der Vorsitzender irgendeines sinnlosen Unterausschusses war. Doch wegen dieser Funktion hatte man ihm ein weiteres Büro zugebilligt, in dem er zusätzliches Personal unterbringen konnte, zu dem auch Rebecca gehörte.
    Tagelang war sie damit beschäftigt, sich hektisch auf die nächsten Anhörungen vorzubereiten, die vor leeren Reihen stattfanden. Den Job verdankte sie ihrem Vater, der im Hintergrund die Fäden gezogen hatte.
    »Ich kann mich vor Arbeit auch kaum retten«, sagte Clay.
    »Gerade kam wieder ein Mordfall rein.« Irgendwie schaffte er es, ein bisschen Stolz in seiner Stimme mitschwingen zu lassen, ganz so, als wäre es eine Ehre, den Pflichtverteidiger für Tequila Watson spielen zu dürfen.
    Diese Gespräche waren bei ihnen ein Ritual. Wer hatte am meisten zu tun, wer den wichtigeren Job? Wer arbeitete am härtesten? Wer musste dem größeren Druck standhalten? »Morgen hat meine Mutter Geburtstag«, sagte Rebecca. Eine kleine Kunstpause gab Clay die Chance zu der Bemerkung, er habe es nicht vergessen. Aber so war es nicht. Der Geburtstag ihrer Mutter war ihm herzlich egal. Er mochte sie nicht. »Meine Eltern haben uns zum Essen im Club eingeladen.«
    Ein ohnehin schlimmer Tag drohte zum Fiasko zu werden.
    Clay fiel nur eine reflexhafte Antwort ein: »Ja, natürlich.«
    »Also, so gegen sieben Uhr. Mit Jackett und Krawatte.«
    »Natürlich.« Lieber hätte er mit Tequila Watson im Knast zu Abend gegessen.
    »Ich muss weitermachen«, sagte Rebecca. »Ich liebe dich.«
    »Ich dich auch.«
    Wieder eines der typischen Gespräche zwischen ihnen. Ein paar schnell hingeworfene Sätze, bevor beide wieder ihren ach so wichtigen Aufgaben nachgingen. Clay blickte auf die Fotografie von
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