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Die Schuld

Titel: Die Schuld
Autoren: John Grisham
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ein paar Minuten nahm Carter mit seinem neuen Mandanten am Tisch der Verteidigung Platz. Tequila Watson rückte allerdings nur ein paar äußerst dürftige Informationen heraus. Abschließend versprach Carter, am nächsten Tag im Gefängnis vorbeizuschauen, damit sie ein längeres Gespräch führen konnten. Während die beiden sich leise unterhielten, tauchten plötzlich wie aus dem Nichts Carters Kollegen aus dem OPD auf.
    War das ein abgekartetes Spiel?, fragte er sich. Waren die anderen Pflichtverteidiger klammheimlich verschwunden, weil sie wussten, dass dem Richter ein Mordverdächtiger vorgeführt werden sollte? Während der vergangenen fünf Jahre hatte sich auch Carter mehrfach auf diese Weise aus der Affäre gezogen. In seinen Kreisen hatte es sich fast zu einer Kunst entwickelt, sich vor den unangenehmen Fällen zu drücken.
    Er klemmte sich seine Aktentasche unter den Arm und stürmte durch den Mittelgang, ohne von den besorgten Verwandten der Angeklagten oder von Adelfa Pumphrey und ihren beiden Begleitern Notiz zu nehmen. Im Flur befanden sich etliche weitere Kriminelle, auch sie in Begleitung ihrer Mütter, Freundinnen und Anwälte. Unter den anderen Pflichtverteidigern gab es einige, die schworen, ohne das Chaos im H. Carl Moultrie Courthouse nicht leben zu können. Angeblich liebten sie den Druck, unter dem die Verfahren stattfanden, die Atmosphäre latenter Gefahr, die die vielen, in einem Raum zusammengepferchten Gewaltverbrecher verströmten, die schmerzlichen Konflikte zwischen Opfern und Tätern und die endlos langen Prozesslisten mit den dicht gedrängten Terminen. Wollte man ihren Worten Glauben schenken, dann hielten sie es für ihre Mission, die Unterprivilegierten zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie von der Polizei und der Justiz fair behandelt wurden.
    Sollte Clay Carter jemals den Wunsch empfunden haben, als Pflichtverteidiger im OPD Karriere zu machen, so war ihm der Grund dafür mittlerweile entfallen. In einer Woche stand sein fünfjähriges Dienstjubiläum an, doch zum Feiern gab es keinen Anlass. Er hoffte, dass sich niemand daran erinnern würde. Mit seinen einunddreißig Jahren war Clay bereits ausgebrannt, gefangen in einem Büro, das er seinen Freunden allenfalls beschämt präsentieren konnte, und auf der Suche nach einem Ausweg aus seiner Misere. Doch er fand keinen. Und jetzt hatte er auch noch diesen sinnlosen Mordfall am Hals, der von einer Minute zur anderen zu einer immer schwereren Last wurde.
    Im Aufzug verfluchte er sich, weil er so blöde gewesen war, sich den Mord aufbürden zu lassen. Er hatte einen echten Anfängerfehler gemacht und war doch eigentlich schon viel zu lange in diesem Geschäft, um noch in eine solche Falle zu tappen. Eine Falle, die ihm zudem auf bestens vertrautem Terrain gestellt worden war. Ich schmeiß den ganzen Kram hin, versprach er sich, doch diesen Schwur hatte er während des vergangenen Jahres fast jeden Tag vor sich hin gemurmelt.
    Außer ihm waren noch zwei andere Personen im Lift - eine Gerichtsschreiberin mit einem Haufen Akten unter dem Arm und ein etwa vierzigjähriger Mann in schwarzer Designerkleidung: Jeans, T-Shirt, Jackett, Krokodillederstiefel. Er hielt eine Zeitung in den Händen und schien zu lesen. Seine kleine Lesebrille hatte er bis auf die Spitze der ziemlich langen, markanten Nase hinabgeschoben. Tatsächlich beobachtete er Clay, der aber nichts bemerkte, weil er in Gedanken versunken war. Warum sollte man auch einem anderen Menschen im Aufzug dieses Gebäudes Beachtung schenken?
    Hätte Carter seine Umgebung aufmerksam betrachtet, statt seinen Gedanken nachzuhängen, wäre ihm mit Sicherheit aufgefallen, dass dieser Mann für einen Angeklagten zu gut und für einen Anwalt nicht dezent genug gekleidet war. Außer der Zeitung hatte er nichts dabei, und schon das war merkwürdig. Dieses Gerichtsgebäude war nicht gerade dafür bekannt, dass man darin ein gemütliches Lektürestündchen abhalten konnte. Der Mann schien weder Richter noch Gerichtsschreiber, weder Verbrechensopfer noch Angeklagter zu sein. Aber Clay nahm ihn nicht zur Kenntnis.
2
    I n Washington gab es etwa sechsundsiebzigtausend Rechtsanwälte, von denen viele für die riesigen Kanzleien arbeiteten, die sich in Steinwurfnähe zum Kapitol befanden. Das waren reiche und mächtige Büros, die die hellsten Köpfe der Branche mit geradezu obszönen Bonussen als Partner köderten, farblosen ehemaligen Kongressabgeordneten großzügig dotierte Lobbyisten Jobs
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