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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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bescheiden, sie gab sich mit der Existenz einer alleinstehenden Frau zufrieden, die in dieser Welt des Wahnsinns weiter damit beschäftigt war, das Werk des verstorbenen Doktors zu vervollständigen. Ziemlich regelmäßig fuhr sie nach Józefów und machte Notizen am Rande der Manuskripte ihres Mannes, unterhielt Kontakte mit Warschauer Ärzten, vertrauenswürdigen Leuten, die sogar in dieser grausamen Zeit zu einem Gespräch mit der schönen und klugen Frau bereit waren. Sie beschäftigte sich so intensiv mit den Problemen der Röntgenstrahlen und den Rätseln der Röntgenologie, daß sie die Hölle nicht zu bemerken schien, in der damals alle lebten.
    Doch sie bemerkte die Hölle. Sie sagte, auch in der Hölle müsse man so lange wie möglich seinen Weg gehen. Manchmal machte sie sich Vorwürfe, daß sie die Nachrichten von der anderen Seite mit einer gewissen Gleichgültigkeit aufnahm. Aber sie hatte ihre Verstorbenen nicht im Ghetto. Sie hatte sie nirgendwo, denn der Friedhof, auf dem Dr. Ignacy Seidenman ruhte, war dem Erdboden gleich gemacht worden, die Grabtafeln gestohlen oder als Straßenpflaster vorgesehen. Dr. Seidenmans Körper existierte nicht mehr, aber Irma Seidenman war überzeugt, er selbst existiere irgendwo, vielleicht in Gottes Nähe, vielleicht als geistige Energie im Kosmos oder als Bestandteil der Luft, die sie atmete, als Bestandteil des Wassers, das sie trank. Außerdem blieb Dr. Ignacy Seidenman als Erinnerung in ihrem Leben. Sie sah ihn oft, sie sprach des Abends mit ihm, er kam im Traum zu ihr, nicht als Geliebter, nicht als Ehemann, sie spürte weder seine Arme noch seine Küsse, sondern nur seine Anwesenheit, seine konzentrierte, schweigende, vielleicht sogar ein wenig kapriziöse Anwesenheit; denn Dr. Seidenman hatte ein Recht dazu, ihr ihre Kritik, ihre Verbesserungen übel zu nehmen, die sie in seine Manuskripte einzufügen sich verpflichtet fühlte. Manchmal stritt sie im Traum mit ihrem Mann, doch war ihr immer klar, daß sie sich mit sich selber stritt, weil ihr Mann nicht mehr lebte und man sich mit ihm nicht streiten konnte.
    Sie waren also die ganzen Jahre beieinander, sie sehr real, mit ihren vielen kleinen und größeren Sorgen, auch mit der großen Angst, die aus dem Wissen um ihre Herkunft resultierte, um ihr Judentum; es war allerdings gut versteckt dank ihres Aussehens, ihrer vorzüglichen Papiere und der Freundlichkeit ihrer näheren Umgebung, die keinen Verdacht hegte, und wenn sie ihn hegte, stand sie unter dem Druck zweier Jahrtausende europäischer Zivilisation. Sie waren also beieinander, nur Dr. Seidenman ein wenig im Abseits, zum Glück unsichtbar und unerreichbar für die Verfolger.
      Irma Seidenman sagte sich täglich, es werde ihr zweifellos gelingen, den Krieg zu überleben, das Werk ihres Mannes zu ergänzen und danach zu veröffentlichen, was sie nicht nur für einen Beweis ihrer Liebe und ihres Gedenkens hielt, sondern auch – nicht ohne Beschämung und ein wenig Eitelkeit – für ihren eigenen röntgenologischen Erfolg, der umso größer sei, als sie über keine medizinische Ausbildung verfügte, vielmehr alles dank ihrer Intelligenz, Arbeitsamkeit und Hartnäckigkeit erreicht hatte. Sie fühlte sich dermaßen sicher auf dem Boden ihrer Überlegungen und Beobachtungen, daß sie beabsichtigte, in Zukunft die verspätete Anstrengung des Medizinstudiums auf sich zu nehmen, vielleicht gar unter Leitung von Professor Lebrommel, der auch der Lehrer ihres verstorbenen Mannes gewesen war.
    Sie sagte sich also, sie werde den Krieg überleben, und glaubte zugleich, das sei ein völlig absurder Gedanke, weil sie bestimmt entlarvt würde und das Schicksal der anderen Juden teilen müsse. Sie wartete auf diesen Tag mit bitterer Neugier und war fest entschlossen, ruhig und ohne Klage zu sterben, weil sie ja viel erreicht habe und mit jedem Tag dem Ende ihrer Arbeit am Werk ihres Mannes näher komme. Sie wollte sehr gern noch eine Zeitlang leben, noch etwas ergänzen, korrigieren, ändern, verfiel aber nicht in fieberhafte Unruhe. Selbst wenn sie es nicht schaffen sollte, das wußte sie genau, würden andere es schaffen, irgendjemand ganz bestimmt, weil es vernünftige und anständige Menschen auf der Welt gibt, die ihre Mühe fortsetzen und das Werk zu Ende führen würden. Sollten sich aber solche Menschen nicht finden, so hätte Dr. Ignacy Seidenmans Werk ohnehin seinen Sinn verloren.
      Sie hoffte zu überleben und war genauso überzeugt, sie würde umkommen
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