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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Riegel verschließen. Man konnte sich schlecht hinsetzen, weil der Abtritt noch aus der Zeit des russischen Zarenreiches stammte und dort die Schutzmänner Zar Alexanders III. zu scheißen pflegten; von ihm hatte Henryk Fichtelbaum gehört, er sei von riesiger Größe und Körperkraft gewesen, habe die Polen mit außerordentlicher Hartnäckigkeit russifiziert und sich in ganz Europa eines hohen Ansehens erfreut. Der Abtritt war so eingerichtet, daß man sich stehend oder hockend entleerte, weil zur Zeit des Zarenreiches die Leute hinsichtlich der neuesten hygienischen Errungenschaften gern übertrieben. Jetzt aber herrschten andere Zeiten, und Henryk Fichtelbaum setzte sich auf die Metallstufe, stützte den Arm gegen die Wand, atmete den Gestank der Exkremente ein und sagte flüsternd: »Lieber Gott, wenn ich schon sterben muß, dann mach, daß ich mich vorher sattesse und aufwärme, denn ich kann's nicht mehr aushalten…«
      Er hatte seit drei Tagen nichts gegessen, spürte einen Druck im Magen und Schwindel im Kopf. Er war durchgefroren bis auf die Knochen. Morgens und abends wurde es sehr kühl.
      »Lieber Gott, hab Erbarmen mit mir! Warum hast du es auf mich abgesehen?«
    Henryk hatte ein anspruchsvolles Verhältnis zu Gott wie jeder, der nicht wirklich an Gott glaubt und sich an ihn in speziellen Situationen wendet wie an eine endgültige, aber nicht sehr zuverlässige Instanz. Henryk war in einem indifferenten Hause aufgewachsen, an der Grenze zweier Welten, im Niemandsland, denn sein Vater, der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum, stammte zwar aus einer Familie frommer, orthodoxer Juden, hatte aber Jura studiert, sein altes Milieu verlassen und sich von der mosaischen Religion gelöst. Die Familie kam aus Galizien, war arm und provinziell, obgleich der Vater des Rechtsanwalts, ein für seine Zeit gebildeter Mann, in Rabbinerkreisen verkehrte. Der Rechtsanwalt, ein moderner Mensch, glaubte nicht an Gott und sympathisierte ein bißchen mit den Kommunisten wie viele andere jüdische Intellektuelle jener Jahre, die im Kommunismus ein Heilmittel gegen alle rassischen Vorurteile sahen und dabei ganz törichterweise vergaßen, daß der Kommunismus sich in Rußland entwickelt hatte.
      Henryk Fichtelbaum war also in einer sehr weltlichen und freidenkerischen Atmosphäre aufgewachsen, vielleicht sogar in einer lächerlich freidenkerischen, denn der Rechtsanwalt Jerzy Fichtelbaum wollte europäischer und libertinistischer sein als die größten Europäer und Libertiner in Paris, was verständlich ist, wenn man bedenkt, daß er aus einem abgelegenen Winkel Galiziens stammte. Henryk war demzufolge der Religion nur in der Schule begegnet, wo die Mehrheit seiner Kameraden der katholischen Kirche angehörte und sein engster Freund und Nachbar von der Schulbank, Pawełek Kryński, als Junge von großer religiöser Inbrunst galt, wobei es sich um eine Übertreibung handelte, denn Pawełek hatte gleichfalls seine Komplikationen mit dem lieben Gott. So wuchs Henryk Fichtelbaum zu einem gottlosen Jüngling heran, und sein Interesse wandte sich den exakten Wissenschaften zu, hauptsächlich der Mathematik, Physik und Chemie, mithin den Geheimnissen der materiellen Welt. Selbst eine so große Erschütterung, wie sie der Umzug aus der schönen Wohnung auf der Królewska-Straße in das elende Ghettoquartier für den Jungen bedeutete, bewog Henryk nicht zu tieferen metaphysischen Überlegungen.
      Im Ghetto litt er zunächst keine Not, doch fehlte es bald an allem, und nach einem Jahr begriff die Familie des Rechtsanwalts, daß sie zur Vernichtung bestimmt war. Einige Zeit später starb Henryks Mutter. Er blieb allein mit seinem Vater und seiner Schwester Joasia, einem kleinen Kind, das er sehr liebte. Doch war er jung, immer noch kräftig und verlor die Hoffnung nicht. Er beschloß, auf die arische Seite zu wechseln, um dort zu überleben, nahm Abschied von Vater und Schwesterchen und floh aus dem Ghetto.
    An jenem Tage dachte er zum ersten Mal im Leben ernstlich an Gott. Er lag im Dunkeln auf dem feuchten Bürgersteig unweit der Ghettomauer und war völlig allein. Der Mensch sollte im Augenblick der Prüfung nicht allein sein. Er braucht andere Menschen, und wenn er keine in der Nähe hat, entdeckt er plötzlich die Anwesenheit Gottes. Gewöhnlich ist das eine flüchtige, kaum greifbare Anwesenheit, als wäre Gott eiligen Schrittes vorbeigegangen und hinter dem nächsten Eckhaus verschwunden. Vor dem Erklettern der Mauer hatte
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