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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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auch einen alten, abgenutzten Ausweis des Kreises der Offiziersfamilien aus der Stadt Grodno, ausgegeben im Jahr 1937. Er hatte die Fotografie eines korpulenten Mannes über vierzig in Uniform und mit den Rangabzeichen eines Hauptmanns. Auch die Fotografie war in Grodno angefertigt. Irma Seidenman besaß gute Papiere. Stuckler öffnete und schloß das silberne Zigarettenetui mit den goldenen Buchstaben I. S. Sie hatte das Zigarettenetui von ihrem Mann Dr. Ignacy Seidenman kurz vor seinem Tode bekommen, es war sein letztes Geschenk, von dem sie sich nie hatte trennen wollen. Bronek Blutman hatte lächelnd auf das Zigarettenetui hingewiesen und zu Stuckler gesagt: »Sehen Sie doch, Herr Sturmführer, das ist wohl der beste Beweis, I. S., Irma Seidenman, oder, wenn Sie wollen, Ignacy Seidenman. Den habe ich auch gekannt.«
    »Wo ist er?« fragte Stuckler.
      »Der lebt nicht mehr. Vor dem Krieg gestorben«, antwortete Bronek.
      »Das ist nicht mein Zigarettenetui«, sagte sie. »Ich habe es vor ein paar Wochen gefunden. Sie sehen ja selbst, es ist aus Silber. Und die Buchstaben aus Gold. Solche Dinge wirft man heutzutage nicht fort.«
      Das hatte sie viele Male wiederholt, auch als Bronek Blutman nicht mehr im Zimmer war. Stuckler öffnete und schloß träge das Zigarettenetui. Nach drei Viertelstunden ließ er Irma abführen.
      Sie saß im Käfig, und was sie im Lauf dieses Vormittags erlebt hatte, war jetzt ihr wirkliches Leben.
    Das Zigarettenetui, dachte sie. Immer und über alles entscheidet eine Kleinigkeit. Das Zigarettenetui, ohne das man sehr gut leben kann, sein Fehlen würde man nicht bemerken. Der Mensch ist nur ein Objekt unter Objekten. Das Zigarettenetui. Irma war sicher, ohne dieses verdammte Metallbehältnis wäre sie entlassen worden. Aussehen und Papiere zeugten zu ihren Gunsten. Zwar hatte Stuckler sich in einem bestimmten Augenblick erhoben und aufmerksam ihre Ohren betrachtet, war aber gleich hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt. Sie hatte von dem Unsinn mit den Ohren jüdischer Frauen gehört. Was die Männer anging, ließ man sie den Hosenschlitz öffnen. Bei den Frauen suchten sie etwas an der Ohrmuschel. Sie wußten selbst nicht, was sie suchten, aber sie waren gewissenhaft und wollten keine Irrtümer begehen. Irgendjemand in Berlin hatte sich ausgedacht, die Ohrmuschel der jüdischen Frau weise geheimnisvolle Rassenmerkmale auf. Doch diese Merkmale gab es nicht. Deshalb tasteten sie die Ohren ab, prüften die Ohren – und blieben weiter im Ungewissen. Stuckler kehrte enttäuscht hinter seinen Schreibtisch zurück. Aber er hatte das Zigarettenetui. Hätte er das Zigarettenetui nicht gehabt, so hätte er Irma Seidenman entlassen. Dessen war sie fast sicher.
    Sterben wegen einer solchen Kleinigkeit, dachte sie, ist wahrhaft ungerecht. Sie hatte gar nicht das Gefühl, als Jüdin zu sterben, weil sie sich nicht als Jüdin fühlte und das Judesein auf keinen Fall als einen Makel ansah. Sie war überzeugt, infolge des Zigarettenetuis sterben zu müssen. Und dieser Gedanke erschien ihr lächerlich, dumm, böse und hassenswert.

4
    G anz hinten im Hof an der Brzeska-Straße befand sich ein Abtritt mit dem Emailleschild Schlüssel beim Hausmeister. Die Information stimmte nicht. Schon seit dem Ende der Zwanziger Jahre war das Schloß durchgerostet und die Tür mit einem Haken versehen. Im Laufe des Tages herrschte hier viel Kommen und Gehen, die Hökerinnen vom nahen Markt benutzten den Abtritt, aber auch ein Onanist mit Brille und Melone. Abends dagegen, nach Schluß des Marktes blieb es hier still, denn die Hausbewohner hatten auf jeder Etage zwei Klosetts, und für die Bewohner des Souterrains hatte der Eigentümer, von großzügigem Wahnsinn getrieben, noch vor dem Krieg einen Abort mit einer Porzellanmuschel unmittelbar neben dem Tor bauen lassen, das von der Straße auf den Hof führte.
    Henryk Fichtelbaum saß auf dem Abtritt und dachte an den lieben Gott. Angelockt vom Geruch des Gemüses, dessen Abfälle auf dem Pflaster herumlagen, hatte er gegen Sonnenuntergang die Brzeska-Straße betreten. Noch aber hatte er sich nicht versorgen können, da begegnete er dem wachsamen Blick eines Mannes mit Wachstuchmütze. Erschreckt floh er in die nächste Einfahrt, schaute sich auf dem Hof mit seinem von tausend Menschenfüßen und Pferdehufen glatt gescheuerten Steinpflaster um und fand, fieberhaft nach einem Schlupfwinkel suchend, den Abtritt. Die Tür ließ sich von innen mit einem
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