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Die schoene Frau Seidenman

Die schoene Frau Seidenman

Titel: Die schoene Frau Seidenman
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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den Horizont. Als Kind hatte er jede Ecke dieses Fleckchens Erde bis hin zum Horizont betreten. Ein anderes Vaterland besaß er nicht. In seinem Zentrum lag der Ogród Saski, rundum die Straßen, auf einer Seite schön, hell und vornehm, auf der anderen gebrandmarkt von lärmender Unruhe, Häßlichkeit und Armut. Keine Grenze trennte die beiden Welten. Im Schatten der Kastanien des Ogród Saski streiften Damen in Ausgehkostümen, in Hüten mit Schleiern und Schuhen mit hohen Absätzen sowie Herren in Trenchcoats, Melonen und Mänteln mit Pelzkragen, die dunklen Passanten in abgetragenen Kaftanen und Stulpenstiefeln, die marktschreierischen Hökerinnen mit Perücken auf dem Kopf, die Jungen mit Peieslocken und schildlosen Mützen, die phlegmatischen, an Stöcken schreitenden Greise in paspelierten Joppen, mit runden Militärmützen auf dem weißen Haar und dem abgetragenen Schuhwerk armer, verarbeiteter Menschen. Auf den Bänken rund um die Fontäne saßen Revolutionäre von 1905, Veteranen von 1914, Cheveaulegers von 1920, kurzsichtige Lehrerinnen, die in ihren jungen Jahren vor  Eliza Orzeszkowa  geknickst hatten, Verschwörer und nach Sibirien Verbannte, Häftlinge von Moabit und der Festung Olmütz, Seidenwarenhändler von der Nowolipie- und Eisenwaren-Großhändler von der Gęsia-Straße, Antiquare von der Świętokrzyska, junge Diplomaten aus dem Brühlschen Palais, Kokotten und Frömmlerinnen, Arbeitslose und Reiche, Juden, Deutsche, Ukrainer, französische Erzieher aus den alten Gutshöfen, weißgardistische Flüchtlinge, heiratslustige Mädchen, Studenten mit Knabengesichtern und leeren Taschen, Diebe und Klatschbasen. Hier stritt sich Pawełek mit dem grausamen Henio Fichtelbaum, wer von ihnen beim Messerwerfen die Kastanien gewonnen hatte. Hier schlugen sie die Bolschewiken aufs Haupt, zwangen die Eliteregimenter des Duce zur Flucht und schossen die Flugzeuge des Generals Franco ab, die sich erfrechten, die Schanzen der Spanischen Republik zu bombardieren.
    Man brauchte nur ein paar Schritte zu gehen und befand sich zwischen Palästen, Regierungsgebäuden, Limousinen, inmitten von Kaffee- und Parfümdüften. Und man brauchte nur in entgegengesetzter Richtung zu gehen, zur Graniczna-, Żabia-, Rymarska-Straße, um in das Zentrum der jüdischen Diaspora zu gelangen, zwischen die Läden mit Eisenwaren, in die lärmende chassidische Menge, unter die riesenhaften Träger aus den Hallen mit ihren Wachstuchmützen und Arbeitskitteln, in das Geschrei der Händler, das Schnauben der Pferde, vor die verstaubten Vitrinen der armen Mützenmacher-Werkstätten mit der Aufschrift Modes oder Dernier Cri, in die Obstläden, Konditoreien, Friseurgeschäfte, die Schuster- und Täschnerwerkstätten, unter die Straßenverkäufer mit Drillichhosen und Brezeln.
      Man konnte auch in eine andere Gegend der Welt gehen, zu den Türmen der alten Kirchen, den feuchten Mietshäusern und Klöstern, zur proletarischen Plackerei und zu den rebellischen Träumereien des Volkes. Eben dort stieß das Königsschloß an die Kathedrale, die Kathedrale an den Marktplatz, der Marktplatz aber an die Weichsel und den Jordan.
      Das war Pawełs Welt, die im Laufe weniger Jahre unter die Erde versank, vor seinen Augen, in seiner machtlosen, erstaunten Gegenwart. Sie versank ganz wörtlich, zerfiel in Trümmer und begrub unter ihren Ruinen die Menschen und die polnische Lebensweise.
      Paweł überstand den Krieg. Durfte er dann noch auf ein Lächeln des Schicksals zählen? Und trotzdem erlebte er die Liebe. Das ist etwas Erstaunliches. Es läßt sich nicht verheimlichen, Pawełek war ein Glückskind.

3
    D ie Zelle war ein enger Käfig. In ihr stand ein einziger Stuhl. Auf drei Seiten Mauern. Nur zum Gang ein von der Decke bis zum Steinfußboden reichendes Gitter. Unter der Decke brannte eine starke Glühbirne ohne Schirm.
      Irma Seidenman setzte sich auf den Stuhl, wie man ihr befohlen hatte. Der Wärter schloß das Gitter ab und ging mit schwerfälligen Schritten davon.
      Sie war hier nicht allein. Sie hörte die Atemzüge anderer Menschen, die in den Käfigen längs des Ganges eingeschlossen waren. Aber nur die Atemzüge.
      Irma Seidenman neigte den Kopf in die Hände, stützte die Ellbogen auf die Knie und erstarrte gebückt in Konzentration und Stille. In ihr lebte eine Neugier, das Verlangen, jeden vergehenden Augenblick, die Stille, die eigenen Atemzüge und Herzschläge exakt mitzuerleben.
    Irma Seidenman widerfuhr, was sie
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