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Die Schöne des Herrn (German Edition)

Die Schöne des Herrn (German Edition)

Titel: Die Schöne des Herrn (German Edition)
Autoren: Albert Cohen
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muss ich auch noch erwähnen, dass Tantlérie in ihrem ganzen Leben nie eine einzige Lüge ausgesprochen hatte. In der Wahrheit leben, lautete ihre Devise.
    Sehr sparsam trotz ihrer Großzügigkeit, hatte sie nie eine einzige ihrer Aktien verkaufen lassen, nicht etwa weil sie an den Gütern dieser Welt hing, sondern weil sie sich nur als die Treuhänderin ihres eigenen Vermögens betrachtete. (›Alles, was mein Vater mir hinterlassen hat, muss unangetastet an seine Enkel übergehen.‹) Ich habe weiter oben erwähnt, dass sie ›glaubte‹, Aktien des
Journal de Genève
zu besitzen. Sie war nämlich in finanziellen Dingen nicht sehr kompetent und betrachtete ihre Aktien und Obligationen als zwar notwendige, aber niedrige Dinge, von denen man so wenig wie möglich sprach und mit denen zu beschäftigen sich nicht ziemte. Darin verließ sie sich blind auf die Herren Saladin, de Chapeaurouge und Co., Bankiers der Aubles seit dem Verschwinden des Bankhauses Auble und sehr achtbare Leute, obwohl sie sie in Verdacht hatte,
das Journal de Genève
zu lesen. (›Aber ich bin tolerant und verstehe, dass es für die Herren von der Bank eine Notwendigkeit ist, denn sie müssen sich ja auf dem laufenden halten.‹)
    Natürlich verkehrten wir nur mit Leuten unseres Standes, die alle ungeheuer fromm waren. Innerhalb des Stammes der
guten
Genfer Protestanten bildeten meine Tante und ihresgleichen einen kleinen Clan von Ultras. Mit Katholiken zu verkehren kam für uns nicht in Frage. Ich erinnere mich noch, wie Onkel Gri Éliane und mich, als ich elf Jahre alt war, zum ersten Mal nach Annemasse, einer kleinen französischen Stadt in der Nähe von Genf, mitnahm. In Tantléries Zweispänner, der von unserem Kutscher Moïse – trotz seines Vornamens war auch er ein strenggläubiger Calvinist – gelenkt wurde, konnten wir beiden kleinen Mädchen es kaum erwarten, endlich einmal dieses seltsame Volk, diese geheimnisvollen Eingeborenen zu Gesicht zu bekommen. Während der Fahrt sangen wir immer wieder: ›Wir werden Katholiken sehen, wir werden Katholiken sehen!‹
    Doch zurück zu Tantlérie. Mit ihrem flachen Hut, dem stets der kurze schwarze Schleier hinterherwehte, fuhr sie jeden Morgen um zehn mit Moïse, im Zylinder und mit Stulpenstiefeln, im Zweispänner aus. Sie besuchte ihre liebe Stadt, um zu sehen, ob alles am rechten Platz war. Stieß sie sich an irgendeiner Unzulänglichkeit, wie eine brüchige Rampe, ein aus den Fugen geratenes Eisengitter, ein versiegter öffentlicher Brunnen, so begab sie sich sogleich zu ›einem jener Herren‹, das heißt, sie beklagte sich bei einem Mitglied der Genfer Regierung. Das Ansehen ihres Namens und ihrer Persönlichkeit, gestärkt noch durch ihre Wohltätigkeit und ihre Beziehungen, war so groß, dass die hohen Herren stets eiligst bemüht waren, sie zufriedenzustellen. Hier noch ein Beispiel für den Genfer Patriotismus Tantléries: Sie hatte die Beziehungen zu einer englischen Prinzessin abgebrochen, die zwar ebenso fromm war wie sie, es jedoch in einem Brief gewagt hatte, sich über Genf lustig zu machen.
    Gegen elf war sie zurück in ihrer schönen Villa in Champel, ihrem einzigen Luxus neben ihrem Zweispänner. Wie ich bereits erwähnte, war sie sehr wohltätig und gab für sich selbst sehr wenig aus. Ich sehe noch ihre imposanten schwarzen Schleppenkleider, die jedoch alle alt, abgetragen und sorgfältig gestopft waren. Um zwölf Uhr mittags ertönte der erste Gongschlag. Um halb eins der zweite, und dann musste man sich sofort ins Speisezimmer begeben. Es wurde keine Verspätung geduldet. Onkel Agrippa, Jacques, Éliane und ich standen um den Tisch und erwarteten jene Frau, die wir unter uns manchmal die Chefin nannten. Natürlich setzten wir uns erst, nachdem sie Platz genommen hatte.
    Nach dem Tischgebet wurde ausschließlich über anständige Themen gesprochen, wie Blumen (›man muss immer das Ende des Stiels der Sonnenblumen eindrücken, damit sie sich halten‹) oder die Farben eines Sonnenuntergangs (›ich habe es so genossen, ich war so dankbar für all diese Pracht‹) oder über Temperaturschwankungen (›heute früh beim Aufstehen habe ich gefröstelt‹) oder die letzte Predigt eines Lieblingspastors (›sehr gut durchdacht und hübsch ausgedrückt‹). Man sprach auch viel über die Fortschritte der evangelischen Mission in Sambesi, und deshalb kenne ich mich noch heute bestens in Negerstämmen aus. Ich weiß zum Beispiel, dass der König von Lesotho Lewanika heißt und
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