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Die Schnapsstadt

Die Schnapsstadt

Titel: Die Schnapsstadt
Autoren: Mo Yan
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verlässt sich ganz Jiuguo darauf, dass Ihr Heldenlied die Stadt berühmt machen wird.»
    «Mein Heldenlied?»
    «Lieber Mo Yan, genießen Sie Ihr Frühstück», sagte Yu Yichi.
    «Ja, verehrter Meister», sagte Li Yidou, «frühstücken Sie erst einmal.»
    Also zog Mo Yan seinen Stuhl an den Tisch und legte Ellbogen und Handgelenke auf das schneeweiße Tischtuch. Durch die hohen Fenster schien die Sonne in den kleinen Speisesaal und erleuchtete jeden Winkel. Aus den Lautsprechern an der Decke klang wie aus weiter Ferne leise Jazzmusik. Gedämpfte Trompetentöne rührten seine Seele an. Er dachte an die Massage und das Fräulein Ma mit der Brille.
    Das Frühstück bestand aus sechs bescheidenen, aber appetitlich arrangierten Fleisch- und Gemüsegerichten. Dazu gab es Milch, Spiegeleier, Toast, Marmelade, Dampfnudeln, Reisbrei, eingelegte Enteneier, gebratenen Tofu, Sesamkringel, kleine Teigröllchen … eine größere Auswahl, als er sich je hätte vorstellen können: eine erlesene Kombination chinesischer und westlicher Gerichte.
    «Ein gedämpfter Kloß und eine Schale Reis ist mehr als genug für mich», sagte Mo Yan.
    «Greifen Sie nur zu», sagte Yu Yichi. «Nur keine falsche Bescheidenheit. In Jiuguo gibt es genug zu essen für alle.»
    «Und wie wäre es mit einem Schnaps?», fragte Li Yidou. «Was darf es sein?»
    «Auf leeren Magen? Danke, nichts.»
    Yu Yichi insistierte: «Nur ein Glas! Das ist bei uns so üblich.»
    «Meister Mo hat einen empfindlichen Magen», sagte Li Yidou. «Ein Glas Ingwerwein wärmt den Magen an.»
    «Fräulein Yang», rief Yu Yichi. «Kommen Sie und schenken Sie ein!»
    Eine Kellnerin erschien. Fräulein Yang war noch schöner als Fräulein Ma. Mo Yan blieb bei ihrem Anblick fast die Luft weg. Yu Yichi stieß ihn mit dem Ellbogen an und fragte: «Bruder Mo, was halten Sie von den Frauen der Zwergentaverne?»
    «Sie gleichen der Mondgöttin.»
    «Göttlicher Schnaps ist nicht das Einzige, wofür Jiuguo berühmt ist. Unsere Frauen sind genauso göttlich», brüstete sich Li Yidou. «Die Mütter der berühmten Kurtisanen Xi Shi und Wang Zhaojun stammten beide aus Jiuguo.»
    Yu Yichi und Mo Yan lachten.
    Li Yidou protestierte: «Da gibt es nichts zu lachen. Ich kann es beweisen.»
    «Hör auf mit dem Unsinn», sagte Yu Yichi. «Für wilde Geschichten ist Mo Yan zuständig.»
    Jetzt lachte auch Li Yidou. «Das ist wahr», sagte er. «Ein Gelehrter sollte nicht versuchen, seinen Meister zu übertreffen.»
    Sie beendeten ihr Frühstück unter Gelächter und munteren Reden. Fräulein Yang kam an den Tisch und reichte Mo Yan ein parfümiertes heißes Handtuch, mit dem er sich Gesicht und Hände abwischte. Ihm war so wohl wie lange nicht mehr. Als er sich das Gesicht abwischte, waren seine Wangen zart und weich wie Seide. Er fühlte sich einfach großartig und entspannt.
    «Tavernenwirt Yu», sagte Li Yidou, «für das Mittagessen verlassen wir uns ganz und gar auf Sie.»
    «Muss ich mir das von einem kleinen Schreiberling anhören? Ich würde es nicht wagen, einem Ehrengast der Stadt, der von weit her gekommen ist, etwas anderes als das Beste anzubieten.»
    «Ich habe einen Wagen bestellt, Meister Mo», sagte Li Yidou. «Wenn Sie wollen, können wir zu Fuß gehen, wenn nicht, können wir fahren.»
    «Gib dem Fahrer frei», sagte Mo Yan. «Wir werden einfach dahin gehen, wohin uns die Füße tragen.»
    «Einverstanden», sagte Li Yidou.

III
     
    Mo Yan und Li Yidou gehen die Eselsgasse entlang.
    Sie ist wirklich mit alten Steinen gepflastert, die der nächtliche Regen rein gewaschen hat. Aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen steigt ein frischer, kühler, ein wenig säuerlicher Geruch auf, der Mo Yan an eine der Erzählungen Li Yidous erinnert.
    «Gibt es eigentlich wirklich einen schwarzen Geisteresel, der nachts durch diese Straße galoppiert?», fragt er.
    «Das ist eine Legende», sagt Li Yidou. «Niemand hat ihn je gesehen.»
    «Es muss unzählige tote Esel geben, die diese Straße bevölkern.»
    «In der Tat. Die Straße ist mindestens zweihundert Jahre alt, und niemand weiß, wie viele Esel hier geschlachtet worden sind.»
    «Wie viele pro Tag?», fragt Mo Yan.
    «Mindestens zwanzig», erwidert Li Yidou.
    «Gibt es wirklich so viele Esel?»
    «Würde irgendjemand einen Schlachthof aufmachen, wenn es keine Esel zu schlachten gäbe?»
    «Und es gibt genügend Kunden?»
    «Manchmal übersteigt die Nachfrage das Angebot.»
    Während sie sich unterhalten, kommt ein Mann, der wie ein
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