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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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diesen Eindrücken ist die tragische und faszinierende Figur der Rosario Tijeras entstanden.
     
    Das Phänomen des »sicario« ist eine pervertierte Form von Gewalt in einem Land, das seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommt. Mit dem »sicario« vollzieht sich, wie Peter Waldmann schreibt, die »Abtrennung des Mordgeschehens von jedem nachvollziehbaren und verständlichen Motiv. Zum einen, weil für ihn ›Freund‹ und ›Feind‹ zu austauschbaren Begriffen werden, über deren Konkretisierung letztlich sein Auftraggeber entscheidet. Zum anderen jedoch, weil über den ›sicario‹ als professionellen Mörder Gewalt für einen unbegrenzt großen Personenkreis als Mittel erschlossen wird, um Konflikte zu ›lösen‹«.
    In den letzten Jahrzehnten sind in Kolumbien immer neue Gruppierungen entstanden, die gemeinsam haben, dass sie ihre Interessen stets mit Gewalt zu verteidigen oder durchzusetzen versuchen: paramilitärische Einheiten auf dem Land, die meist im Dienst der Großgrundbesitzer stehen, Todesschwadrone, die sich aus ehemaligen oder noch im Dienst befindlichen Polizisten rekrutieren und Jagd auf Angehörige von Randgruppen machen, Bürgerwehren und Volksmilizen, die sich verzweifelt gegen die brutale Bandenkriminalität in ihren Vierteln zu wehren versuchen, und die fünf in Kolumbien operierenden Guerillaverbände, die hauptsächlich auf dem Land, wohin der staatliche Arm kaum reicht, eigene Herrschaftsstrukturen errichtet haben und versuchen, ihren Einfluss zumindest auf die Armenviertel der Städte auszudehnen.
    Die Statistiken von Amnesty International sprechen für sich: Im Jahr 1992 gab es 28.237 Morddelikte in Kolumbien, was umgerechnet auf die Bevölkerung 85 gewaltsame Tode auf 100.000 Kolumbianer bedeutet (zum Vergleich: in Deutschland sind es 1-1,5 Mord- bzw. Totschlagfälle je 100.000 Einwohner pro Jahr).
     
    Auch wenn der Autor sparsam mit realen Ereignissen und Namen umgeht – der Name Pablo Escobar fällt ein einziges Mal –, ist die Handlung eindeutig in der Hochphase des Medellíner Drogenkartells angesiedelt. Und Rosarios Ende fällt zusammen mit der Zerschlagung dieser mächtigen Organisation, für die Präsident Gaviria 1992 sogar die Amerikaner zu Hilfe holte.
    Doch das Problem der Drogen ist damit längst nicht beseitigt, im Gegenteil: »Die Drogen haben sich im ganzen Land verbreitet und sind zu einem gesellschaftlichen Problem geworden«, stellt Jorge Franco fest. »Es ist unmöglich, dass jemand als Künstler auf eine so massive Problematik nicht reagiert.«
    Mit dem Roman Die Scherenfrau, für den Jorge Franco 2000 den »Dashiell Hammett«-Preis erhielt, hat der Autor einen Nerv getroffen; nicht nur wegen der Thematik, sondern weil diese ihre Verkörperung in einer schönen, leidenschaftlichen, starken und aggressiven Frau findet, der die gesamte Männerwelt, von den Drogenbossen bis zu den verwöhnten Bürgersöhnchen, zu Füßen liegt, ohne dass dies allzu großen Eindruck auf sie machen würde.
    Unter die Haut geht die bedingungslose heimliche Liebe des Erzählers, von der er nicht ohne Lakonie berichtet. Genau diese Erzählperspektive ist es auch, die verhindert, dass Rosario zu transparent wird; er und sein bester Freund Emilio können nur ahnen, was sie während ihrer manchmal wochenlangen Abwesenheit tut. Und der Leser empfindet ebenfalls diese Mischung aus Neugier, Angst und Unwohlsein, wenn er es sich vorzustellen versucht.
    In filmhaften Flashbacks mit spitzzüngigen und schlagfertigen Dialogen und drastischen Actionszenen hält Jorge Franco den Leser in Atem, um ihn dann wieder den Liebesbekenntnissen des Erzählers auf einem trostlosen Krankenhausflur lauschen zu lassen.
    Gleichzeitig dokumentiert der Roman die eigenwillige Rolle, die die Religion für die »sicarios« spielt. Töten bedeutet nicht, dass man nicht mehr betet, mal zum Teufel, mal zu Gott, je nachdem, wessen Hilfe aussichtsreicher erscheint. Und ein Gefühl von Sicherheit verschaffen sich Rosarios Killerfreunde, indem sie die tödlichen Kugeln vor dem Einsatz in Weihwasser kochen.
     
    Die Scherenfrau ist mit über 300.000 Exemplaren eines der meistverkauften Bücher der letzten Jahrzehnte in Kolumbien. Jorge Franco ist damit zu einer der starken kolumbianischen Stimmen der Postboom-Generation geworden oder, wie es die Zeitschrift El Foco auf den Punkt bringt, »der Roman Die Scherenfrau ist der letzte Nagel im Sarg des lateinamerikanischen Booms der Sechzigerjahre, ohne den mächtigen Einfluss von
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