Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
Vom Netzwerk:
Emilio.
    »Keine Ahnung. Sie sind noch immer da drin.«
    »Aber was ist? Was sagen sie?«
    »Nichts, sie sagen gar nichts.«
    »Und sie hat dir gesagt, dass man ihrer Mama Bescheid geben soll?«, fragte Emilio.
    »Hat sie gesagt, bevor sie sie wegbrachten.«
    »Komisch«, sagte Emilio, »soweit ich weiß, hat sie mit ihrer Mutter nicht mehr geredet.«
    »Das ist überhaupt nicht komisch, Emilio. Diesmal ist es wirklich ernst.«
    Rosario hat immer darum gekämpft, all das zu vergessen, was sie hinter sich gelassen hatte. Aber ihre Vergangenheit ist wie ein Haus auf Rädern, das sie selbst noch in den Operationssaal begleitet, wo man sie in der Hoffnung, sie wieder zum Leben zu erwecken, hingebracht hat und sich neben ihr zwischen den Monitoren und Sauerstofflaschen aufbaut.
    »Wie hieß sie, haben Sie gesagt?«
    »Heißt sie«, korrigierte ich die Krankenschwester.
    »Also, wie heißt sie.«
    »Rosario«, meine Stimme sprach den Namen erleichtert aus.
    »Nachname?«
    Rosario Tijeras hätte ich sagen müssen, denn unter diesem Namen kannte ich sie. Aber Tijeras war nicht ihr Name, sondern vielmehr ihre Geschichte. Sie gaben ihr einen anderen Namen. Gegen ihren Willen und zu ihrem großen Ärger. Doch sie begriff nie, was für einen Gefallen die Leute ihres Viertels ihr damit taten. Denn in diesem Land voller Scheißkerle hatten sie ihr anstatt der Last des einen Nachnamens ihrer Mutter einen Spitznamen gegeben. Mit der Zeit gewöhnte sie sich daran und fand schließlich sogar Gefallen an ihrer neuen Identität.
    »Mit nur einem Nachnamen erschrecke ich die Leute«, erzählte sie mir an dem Tag, an dem ich sie kennen lernte, »das gefällt mir.«
    Und man merkte, dass es ihr gefiel, denn sie betonte jede Silbe, wenn sie ihren Namen aussprach, und schloss mit einem Lächeln, als wären ihre weißen Zähne ihr zweiter Nachname.
    »Tijeras«, sagte ich zu der Krankenschwester.
    »Tijeras?«
    »Ja, Tijeras«, wiederholte ich, während ich die Bewegung mit zwei Fingern nachahmte. »Wie die Schere, mit der man schneidet.«
    »Rosario Tijeras«, notierte sie daraufhin mit einem törichten Kichern.
    Wir gewöhnten uns so sehr an ihren Namen, dass wir uns einen anderen nicht vorstellen konnten. In den dunklen Fluren spüre ich Rosarios angstvolle Einsamkeit in dieser Welt, ohne eine Identität, die sie schützte. Ganz anders als wir, die wir unsere Vergangenheit noch im hintersten Winkel der Welt hervorkramen können, mit Nachnamen, die zustimmendes Grinsen und sogar Nachsicht mit unseren Verbrechen hervorrufen. Das Leben ließ Rosario nicht ein einziges durchgehen, deshalb verteidigte sie sich mit aller Kraft, wobei sie um sich herum einen Wall aus Kugeln und Scheren, aus Sex und Strafe, aus Lust und Schmerz errichtete. Ihr Körper täuschte uns, wir glaubten, dass man darin sinnliche Freuden finden könnte. Dazu lud ihre wundervolle Erscheinung ein, sie machte einem Lust darauf, sie auszuprobieren, die Zartheit ihrer frischen Haut zu spüren, sie machte einem dauernd Lust darauf, in Rosario einzudringen. Emilio erzählte uns nie, wie sie war. Er hatte das Recht, es zu erzählen, denn er war oft mit ihr zusammen. Lange Zeit, viele Nächte, in denen ich sie im anderen Zimmer stöhnen und während hinausgezögerter Orgasmen endlose Stunden schreien hörte. Ich war im Nebenzimmer und versuchte, meine Erinnerung an die einzige Nacht mit ihr aufzufrischen. Diese idiotische Nacht, in der ich in ihre Falle tappte. Eine einzige Nacht mit Rosario, die vor Liebe starb.
    »Wann wurde sie eingeliefert?«, fragte mich die Krankenschwester mit dem Formular in der Hand.
    »Weiß nicht.«
    »Wie spät war es ungefähr?«
    »Ungefähr vier«, sagte ich. »Wie spät mag es jetzt sein?«
    Die Krankenschwester dreht sich zu der Wanduhr um.
    »Halb fünf«, notierte sie.
    Die Stille auf den Gängen wird fortwährend von Schreien zerrissen. Ich höre genau hin für den Fall, dass einer von Rosario stammt. Kein Schrei ähnelt dem anderen. Es ist das letzte Aufbegehren derer, die den nächsten Morgen nicht mehr erleben werden. Ihre Stimme ist nicht darunter. Hoffnung befällt mich, und ich denke, dass Rosario schon ganz andere Sachen überstanden hat. Geschichten, die ich nie erlebt habe. Sie war es, die sie mir erzählte, wie wenn man einen Actionfilm erzählt, den man gut findet. Nur mit dem Unterschied, dass sie die lebende Protagonistin ihrer blutigen Geschichten war. Doch zwischen einer erzählten und einer erlebten Geschichte besteht ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher