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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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nahm Emilio mit auf diese Höllenfahrt. Der Ärmste hätte sich beinahe zu Grunde gerichtet. Er ließ sich so tief hineinziehen wie sie, und bevor sie nicht ganz unten waren, kamen sie da nicht raus. Zu jener Zeit hatte sie jemanden umgebracht. Diesmal nicht mit Scherenstichen, sondern mit einer Kugel. Sie lief bewaffnet und völlig durchgedreht herum, paranoid, verfolgt von Schuld. Emilio versteckte sich mit ihr in dem Häuschen in den Bergen, nur mit Alkohol und Drogen ausgerüstet.
    »Was ist los mit euch, Emilio?«, fiel mir als Erstes ein zu fragen.
    »Wir haben einen Typen umgebracht«, sagte er.
    »Wir ist ein Haufen Leute«, sagte sie mit trockenem Mund und schwerer Zunge. »Ich hab ihn umgebracht.«
    »Ist doch egal«, erwiderte Emilio, »mitgefangen, mitgehangen. Rosario und ich haben einen Typen umgebracht.«
    »Wen, um Himmels willen?«, fragte ich schockiert.
    »Weiß nicht«, sagte Emilio.
    »Ich auch nicht«, sagte Rosario.
    Wir erfuhren auch nie, wie viele sie umgebracht hatte. Wir wussten, dass sie, bevor wir sie kennen lernten, ein paar auf der Liste hatte, von denen sie während unserer gemeinsamen Zeit den einen oder anderen ›schlafen legte‹, wie sie es nannte. Aber ich wusste nicht, ob sie, seit wir sie vor drei Jahren verlassen hatten, bis zu dieser Nacht, in der ich sie sterbend aufsammelte, noch jemanden mit einem ihrer leidenschaftlichen Küsse ›schlafen gelegt‹ hatte.
    »Haben Sie den Kerl gesehen, der auf sie geschossen hat?«
    »Es war sehr dunkel.«
    »Hat man ihn erwischt?«, wollte die Krankenschwester außerdem wissen.
    »Nein«, antwortete ich, »gleich nachdem er sie geküsst hat, ist er abgehauen.«
    Jedes Mal wenn Rosario jemanden umbrachte, wurde sie dick.
    Sie schloss sich ein, um bibbernd vor Angst zu essen, ging wochenlang nicht hinaus, verlangte nach Süßigkeiten und Desserts und aß alles, was sie in die Finger bekam. Manchmal sah jemand, wie sie das Haus verließ, aber kurz darauf war sie zurück mit Tüten voller Lebensmittel. Sie redete mit niemanden, aber wenn die anderen sahen, wie Rosario Gewicht zulegte, kamen alle zu dem Schluss, dass sie in Schwierigkeiten steckte.
    »Schaut euch diese Streifen an«, sie zeigte auf ihren Bauch und ihre Beine, »das kommt daher, dass ich schon oft dick war.«
    So ungefähr drei oder vier Monate nach dem Verbrechen hörte sie auf zu essen und wurde wieder schlank. Sie verstaute die Sweatshirts und kehrte zu ihren hautengen Jeans und nabel- und schulterfreien Shirts zurück. Sie wurde wieder so schön, wie man sie sonst kannte.
    Als ich sie in dieser Nacht traf, war sie schlank. Ich ging davon aus, einer ausgeglichenen, erholten und von alten Scherereien befreiten Rosario zu begegnen. Aber als ich sie schlaff zu Boden sinken sah, wurde mir mein Irrtum augenblicklich klar.
    »Schon als Mädchen war ich ziemlich frech«, erzählte sie stolz, »die Lehrerinnen fürchteten sich vor mir. Einmal hab ich einer das Gesicht zerkratzt.«
    »Und was ist mit dir passiert?«
    »Sie haben mich aus der Schule geworfen. Außerdem erzählten sie mir, sie würden mich ins Gefängnis, in ein Mädchengefängnis, stecken.«
    »Und der ganze Aufruhr wegen eines Kratzers.«
    »Wegen eines Kratzers mit der Schere«, erklärte sie mir.
    Die Schere war das Instrument, mit dem sie täglich umging. Ihre Mutter war Damenschneiderin. Deshalb war sie es gewohnt, dauernd zwei oder drei Paar Scheren zu Hause zu haben. Außerdem sah sie, wie ihre Mutter sie nicht nur zum Stoffschneiden benutzte, sondern auch um Hühnchen, Fleisch, Haare und Fingernägel zu schneiden und regelmäßig ihrem Mann damit zu drohen. Wie fast alle in der comuna waren ihre Eltern auf der Suche nach dem, was alle suchten, vom Land gekommen. Als sie nichts fanden, ließen sie sich im oberen Stadtteil nieder und schlugen sich irgendwie durch. Ihre Mama fand eine Anstellung als Dienstmädchen. Sonntags hatte sie Ausgang, um ihre Kinder und ihren Mann zu besuchen. Sie war süchtig nach Telenovelas, und weil sie in dem Haus, in dem sie arbeitete, so oft fernsah, flog sie raus. Doch sie hatte Glück, sie fand eine Arbeit, die es ihr erlaubte, zu Hause zu schlafen und die Telenovelas vom Bett aus anzuschauen.
    Von Esmeralda, Topacio und Simplemente María lernte sie, dass es möglich war, der Armut zu entkommen, indem man einen Nähkurs belegte. Es war damals nur schwierig, am Wochenende einen Platz zu bekommen, weil alle weiblichen Hausangestellten in der Stadt den gleichen Traum träumten.
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