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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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himmelweiter Unterschied, und in der, von der ich betroffen war, zahlte Rosario drauf. Es war nicht das Gleiche, sie von den Blutströmen erzählen zu hören, die sie bei anderen zum Fließen brachte, und sie auf dem Boden liegen und verbluten zu sehen.
    »Ich bin nicht die, für die du mich hältst«, sagte sie ganz zu Anfang einmal zu mir.
    »Wer bist du dann?«
    »Das ist eine lange Geschichte, Kumpel«, sagte sie mit glasigen Augen, »du wirst sie schon noch kennen lernen.«
    Ich glaube, obwohl sie über Gott und die Welt redete, habe ich nur die Hälfte erfahren, auch wenn ich gerne alles gewusst hätte. Aber das, was sie erzählte, was ich sah und was ich mir zusammenreimen konnte, war genug, um zu verstehen, dass das Leben nicht das ist, was man uns vorgaukelt, dass es sich aber lohnte, es zu leben, wenn einem garantiert wurde, dass man eines Tages einer Frau wie Rosario Tijeras begegnete.
    »Woher kommt das ›Tijeras‹ denn?«, fragte ich sie eines Abends bei einem Glas Schnaps.
    »Von einem Typ, den ich kastriert habe«, antwortete sie, während sie das Glas betrachtete, das sie anschließend in einem Zug leerte.
    Mir verging die Lust, mehr darüber zu erfahren. Vorerst jedenfalls, denn später überfiel mich oft Neugier, und ich bombardierte sie mit Fragen. Ein paar beantwortete sie mir, bei anderen vertröstete sie mich. Doch bekam ich auf alle eine Antwort, wenn die Zeit reif dafür war. Hin und wieder rief sie sogar mitten in der Nacht bei mir an und beantwortete mir irgendeine, die sie vergessen hatte. Alle beantwortete sie mir, bis auf eine, obwohl ich sie ihr häufig stellte.
    »Hast du dich schon einmal verliebt, Rosario?«
    Mit verlorenem Blick dachte sie darüber nach, und als Antwort bekam ich lediglich ein Lächeln. Das schönste von allen, das mich verstummen ließ, unfähig, irgendeine andere Frage zu stellen.
    »Du stellst vielleicht idiotische Fragen«, war manchmal ihre Antwort.
    Ärzte und Krankenschwestern betreten und verlassen eilig den Ort, an den man sie gebracht hat, schieben Krankenbahren mit anderen Sterbenden und unterhalten sich mit leisen Stimmen und ernstem Gesichtsausdruck. Sie gingen sauber gekleidet hinein und kamen mit bespritzten Kitteln wieder heraus. Ich versuche mir vorzustellen, welches wohl Rosarios Blut sein mochte. Es müsste sich von dem der anderen unterscheiden, Blut, das mit tausend Sachen zirkulierte, heißes Blut voller Gift. Rosario war aus einem anderen Stoff gemacht. Gott hatte mit ihrer Schöpfung nichts zu tun.
    »Gott und ich stehen miteinander auf Kriegsfuß«, sagte sie eines Tages, als wir über Gott sprachen.
    »Glaubst du nicht an ihn?«
    »Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht allzu sehr an die Männer.«
    Eine Besonderheit von Rosario war, dass sie selten lachte. Über ein Lächeln kam sie nicht hinaus. Selten hörten wir Gelächter oder irgendeine Art von Geräusch, mit dem sie ein Gefühl zum Ausdruck gebracht hätte. Bei einem Witz oder in einer noch so grotesken Situation blieb sie ungerührt. Weder Emilios zärtliches Kitzeln, mit dem er ihr ein Lachen zu entlocken versuchte, verursachte eine Regung, noch die Küsse auf den Bauchnabel, noch die Fingernägel, die ihre Achselhöhlen entlang fuhren oder die Zunge, die über ihre Haut bis hin zur Fußsohle strich. Sie schenkte einem höchstens ein Lächeln von der Sorte, die im Dunkeln leuchten.
    »Um Himmels willen, Rosario, wie viele Zähne hast du eigentlich?«
    Eine andere Sache, die wir nie erfuhren, war ihr Alter. Als wir sie kennen lernten, als Emilio sie kennen lernte, war er achtzehn, und ich sah sie zwei oder drei Monate später zum ersten Mal. Sie erzählte mir, sie sei zwanzig. Danach hörten wir sie sagen, sie sei zweiundzwanzig oder fünfundzwanzig, später einmal achtzehn. So mochte sie es. Sie wechselte das Alter wie ihre Kleider und ihre Liebhaber.
    »Wie alt bist du, Rosario?«
    »Wie alt schätzt du mich?«
    »Sagen wir zwanzig.«
    »Stimmt genau.«
    Tatsächlich wirkte sie ganz unterschiedlich. Mal glich sie einem Mädchen, viel jünger, als sie zu sein behauptete, kaum eine junge Frau. Andere Male wirkte sie sehr fraulich, viel älter als ihre zwanzig Jahre und ein paar, viel reifer als wir. Am verführerischsten und weiblichsten sah Rosario aus, wenn sie mit jemandem schlief.
    Einmal, als sie eine Zeit lang dem Suff und dem bazuco verfallen war, sah ich sie alt und verlebt, klapperdürr, ausgemergelt, müde und gebeugt, als hätte sie unzählige Jahre auf dem Buckel. Sie
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