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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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allein war und außer mir offensichtlich niemanden mehr hatte. Vielleicht war es das, was meinen Plan, ihr zu folgen, am meisten nährte: die Belohnung, die ich als Preis für meine Bedingungslosigkeit bekommen könnte. Der Rest waren Schnipsel eines Films, Rosario allein, ohne Emilio, denn ich war fest entschlossen, ihm nichts von meinen Plänen zu erzählen, ohne Ferney, weil er tot war, ohne die Oberharten, weil sie genau die loswerden wollte. Allein mit mir, in einem anderen Land und mit einer gemeinsamen Nacht als Vorgeschichte. Was wollte ich sonst noch vom Leben?
    Aber weil wir vom Leben nur ganz selten das bekommen, was wir von ihm wollen, machte es auch diesmal keine Ausnähme. Ich rief Rosario an, fest entschlossen, ihren Vorschlag anzunehmen. Allerdings mit ein paar Abweichungen:
    Ich würde mit ihr gehen, aber bei ihrem Deal nicht mitmachen. Ich wäre einfach ihr Begleiter, ich würde mit ihr dort leben, wo sie wollte. Aber das mit dem Deal, nein, das konnte ich nicht. Allerdings wurde meine Angst umgelenkt, denn ich rief sie ziemlich oft an, ohne sie anzutreffen. Ich hatte ihren Anrufbeantworter dran, und sie rief nicht zurück. Ich wusste, warum sie früher verschwunden war, deshalb war meine Verzweiflung umso größer, denn es gab keinen Grund, weshalb Rosario jetzt plötzlich hätte verschwinden sollen. Da fiel mir ihr »Du wirst mir sehr fehlen, Kumpel« wieder ein, und ich dachte, dass das vielleicht ihr Abschied gewesen war. Unauffällig und ohne Lärm zu verursachen, »Ich werde dich sehr vermissen«, ein eindeutiges Adiós, was ich in dem Augenblick allerdings nicht kapiert hatte. Ich sprach mit Emilio, damit er meine Bedenken vielleicht zerstreute, aber ich wusste besser Bescheid als er. Außerdem war es keine gute Idee, ihn zu besuchen.
    »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte er, »sprich nicht mehr von ihr.«
    »Nur die Ruhe«, sagte ich, »das geht auch gar nicht mehr. Rosario ist nämlich weg.«
    »Umso besser.«
    Ich verstand nicht, wie er sich darüber freuen konnte. Bestimmt hat er sie nie wirklich geliebt. Wenigstens nicht so sehr wie ich, der nicht wusste, was tun, wohin gehen, wie ihr folgen. Ich lief ziellos durch die Gegend, auf der Suche nach Plätzen, an denen ich sie vielleicht finden konnte. Mir fiel das Gebäude wieder ein, wo sie mich hingeschickt hatten, um Geld zu besorgen, die steilen Straßen in ihrem Stadtviertel und noch der eine oder andere Ort, den Rosario mit einer gewissen Regelmäßigkeit heimlich aufsuchte. Ich entschloss mich, zu ihrem Apartmenthaus zu gehen. Vielleicht hatte sie dem Portier ja eine Nachricht hinterlassen. Und irgendetwas wissen die ja immer.
    »Aber klar doch, Kumpel«, sagte der Mann zu mir. »Das Fräulein ist gerade zurückgekommen. Gehen Sie ruhig hinauf.«
    Ich rannte, so schnell ich konnte, die Treppen hoch, zu ungeduldig, um auf den Aufzug zu warten. Ich klingelte und klopfte gleichzeitig an ihre Tür. Als sie öffnete, riss ich sie in meine Arme.
    »Ich komme mit!«, sagte ich zu ihr. »Ich werde dich begleiten.«
    Daraufhin umarmte sie mich ganz fest, obwohl ich den Eindruck hatte, dass es nicht aus Freude geschah. Ich spürte, wie sie zitterte. Als sie dann meine Hände nahm, um mir zu danken, waren sie kälter als je zuvor und so schwitzig, dass ich sie nur mühsam greifen konnte.
    »Was hast du getrieben?«, fragte ich sie.
    »Alles vorbereitet«, sagte sie, »du weißt schon.«
    Ich wusste gar nichts und wollte auch nichts wissen. Ich erzählte ihr nichts von den Bedingungen, unter denen ich mit ihr reisen würde. Ich traute mich nicht und beschloss, es für später aufzuheben. Ich konnte diese Begegnung, die mir schon so unwirklich vorkam, nicht verderben. Als ich jedoch einen fertig gepackten Koffer neben der Tür stehen sah, war mir klar, dass ich meine Forderungen nicht länger aufschieben konnte.
    »Wann fährst du?«, fragte ich sie.
    »Wann fahren wir«, korrigierte sie mich. »Ich sag dir Bescheid.«
    Die Situation, die dann folgte, war so chaotisch und merkwürdig, dass es mir noch immer schwer fällt, sie näher zu beschreiben. Ich erinnere mich weder genau an die Reihenfolge, in der es geschah, noch an die Zeit, in der sich alles abspielte. Es war dunkel, das ja, ich war gerade erst gekommen, und was dann kam, war das Krachen der Eingangstür, die sich mit einem Schlag öffnete. Dann wie das Apartment von bewaffneten und auf uns zielenden Soldaten gestürmt wurde, von denen einer Befehle brüllte. Sie zerrten
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