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Die Scherenfrau

Die Scherenfrau

Titel: Die Scherenfrau
Autoren: Jorge Franco
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sie antwortete: »Irgendwo«, die gleiche Antwort, die sie immer gab. »Irgendwo, um mit der halben Welt abzurechnen«, dachte ich während der langen Stille, die folgte.
    »Was gibts sonst?«, fragte ich lustlos. Ich war nicht gerade froh darüber, dass sie wieder aufgetaucht war und mich anrief. Im Gegenteil, ich empfand Müdigkeit und Erschöpfung bei dem Gedanken, sie wieder lieben zu müssen.
    »Es ist ziemlich spät, Rosario«, sagte ich zu ihr. »Lass uns lieber morgen weiterreden.«
    »Ich muss dir ein paar wichtige Dinge erzählen, Kumpel. Dir und Emilio. Hast du mal mit ihm gesprochen?«
    Jetzt war der Grund für ihren Anruf heraus, nach einer Weile fragte sie immer nach Emilio. Wir kannten die Geschichte so gut wie auswendig. Das alte Spiel, mit dem wir drei uns betrogen. Wie jeder nach etwas Ausschau hält, das ihm das Gefühl gibt, alles würde sich einfach schon deshalb ändern, weil heute nicht mehr gestern ist.
    »Hörst du mir zu, Kumpel?«
    »Nein, ich hab nichts mehr von ihm gehört«, sagte ich zu ihr. »Wir haben kaum miteinander gesprochen.«
    »Ihr müsst unbedingt kommen«, insistierte sie. »Ich muss euch etwas erzählen, das euch interessieren wird.«
    »Dann ruf ihn an und schau, was los ist«, sagte ich und hatte größte Lust, aufzulegen. »Kannst ja dann berichten.«
    Darauf einigten wir uns. Obwohl ihr Plan war, dass ich ihr den Weg ebnen sollte, um an Emilio heranzukommen, sollte sie diesmal seine Wut selbst abbekommen, sofern er es fertig brachte, sie an ihr auszulassen. In dieser Nacht konnte ich nicht mehr einschlafen. Nicht, weil mich ihre Worte beunruhigt hatten, sondern wegen des Unbehagens, das man spürt, wenn sich so gar nichts ändert.
    Ein paar Tage später waren Emilio und ich wieder in ihrem Apartment, wenn auch nicht gerade gut gelaunt oder mit fröhlichen Gesichtern. Wir waren einfach nur bereit, uns anzuhören, was uns Rosario so Wichtiges zu erzählen hatte. Man merkte ihr das Bedürfnis an, uns zu sehen oder zumindest das loszuwerden, was sie bisher für sich behalten musste. Sie sah müde aus, unruhig, und obwohl sie nicht dick war, musste sie es gewesen sein, denn sie versuchte uns zu täuschen, indem sie Pfunde in ihre normalen Klamotten zu zwängen versuchte, die in locker sitzenden Sachen besser aufgehoben gewesen wären.
    »Danke, dass ihr gekommen seid, Jungs«, begann sie. »Ich weiß, dass ihr nicht besonders gut auf mich zu sprechen seid. Aber wenn ich euch gebeten habe zu kommen, dann nur, weil ihr das Einzige im Leben seid, das mir geblieben ist.«
    Im Stehen fing sie an zu reden, mühsam um Worte ringend. Aber nach den ersten Sätzen musste sie sich hinsetzen, wie damals, als sie das Foto von Ferney in der Zeitung gesehen hatte. Diesmal kämpfte sie gegen die aufsteigenden Tränen an, aber ihre Stimme brach, als sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ.
    »Ich weiß, dass ihr mit vielem, was ich mache, nicht einverstanden seid«, fuhr sie fort, »und ich hab euch schon so oft versprochen, mich zu ändern. Aber jedes Mal fange ich wieder damit an, das stimmt schon. Aber ich möchte wirklich, dass ihr versteht, dass es nicht meine Schuld ist. Wie soll ich sagen, es ist etwas ganz Starkes, stärker als ich, und es zwingt mich, Sachen zu machen, die ich gar nicht will.«
    Wir verstanden noch immer nicht so recht, worauf Rosario mit ihrer Geschichte hinaus wollte. Aus den Augenwinkeln schaute ich rüber zu Emilio und sah, dass er genauso sprachlos war wie ich. Verführt und verhext von Rosarios Augen, die sich auf der Suche nach Gründen, die ihr Handeln gerechtfertigt hätten, in jeden Winkel drehten.
    »Ihr wisst halt nicht, Jungs, wie schwer mein Leben war, na ja, ‘n bisschen was habt ihr mitgekriegt, aber die Geschichte fängt schon viel früher an. Deshalb bin ich fest entschlossen, alles zu ändern. Denn irgendetwas muss ich machen, was die Vergangenheit auslöscht. Aber wenn ich das alles vergessen will, muss ich ganz schön hart arbeiten und endlich den Absprung finden. Ihr versteht mich doch?«
    Emilio und ich schauten uns erneut an. Wir verstanden überhaupt nichts, aber ohne uns darüber verständigt zu haben, schwiegen wir. Wir wollten nichts sagen, vielleicht um sie nicht anzugreifen, um uns nicht in ihre Überlegungen einzumischen. Sollte sie selbst ihren Vorschlag darlegen.
    »Seht mal, Jungs«, legte sie einen Zahn zu, »ich will euch sagen, dass ich nicht gewillt bin, so weiterzumachen. Aber dafür muss ich auf euch zählen können, ich hab
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