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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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gekämmte Haarsträhne eines alten Mannes. Ricky wich der Wasserspur auf dem Gehweg aus und erspähte eine Bank an der Mauer. Von hier aus würde er die anderen Schüler im Auge behalten können, um sich ihnen wieder rechtzeitig anzuschließen, bevor sie den Platz verließen.
    Rickys Magen knurrte laut. Er hatte die belegten Brote, die ihm seine Mutter gemacht hatte, bereits auf der Hinfahrt im Bus gegessen. Die Mädchen hinter ihm hatten gekichert und geflüstert, als sie ihn in seiner Tasche hatten kramen sehen, aber Ricky kümmerte das nicht. Er war es gewohnt, ausgelacht zu werden. Es machte ihm fast nichts mehr aus. Überraschenderweise fand er jetzt auf dem Grund seiner Tasche einen etwas zerquetschten Schokoriegel. Er wischte ein paar Flusen von der Verpackung und biss zufrieden in die Schokolade.
    Mr Watkins hatte große Mühe, die Gruppe zusammenzuhalten. Auf der anderen Seite des Platzeskreischte eine Horde Mädchen, die von einer Wasserfontäne getroffen wurde, während zwei Jungs versuchten, auf einen der Bronzelöwen zu klettern, die am Fuße der Nelson-Säule schlummerten. Kevin und Janice, ein Pärchen aus Rickys Klasse, schlenderte Hand in Hand auf der Suche nach einer unbeobachteten Ecke an ihm vorbei. Sie bemerkten ihn nicht. Während er beobachtete, wie sich seine Mitschüler in alle Richtungen über den gesamten Platz verstreuten, fragte Ricky sich, warum die Lehrer sie eigentlich hierhergebracht hatten.
    Es hatte begonnen, in Strömen zu regnen, der Wind pfiff in seinen Ohren und trug eine deutliche Note von Damenparfüm zu ihm herüber. Er wurde komplett durchnässt. Ricky überkam ein leichter Schauer, und er hatte plötzlich das eigenartige Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Hatte ihn einer der Lehrer entdeckt? Nervös ließ er seinen Blick über den Platz schweifen. Zu seiner Linken erblickte er eine Studentengruppe, die in irgendeiner fremden Sprache plapperte, einen Straßenkehrer in einer Warnweste, ein junges japanisches Pärchen, das sich gegenseitig fotografierte und …
    Ricky erstarrte. Inmitten der Menschenmenge entdeckte er eine große, finstere Gestalt. Einen Mann, dessen Kopf und Schultern wie ein düsterer Wolkenkratzer weit über die anderen hinausragten. Seine Haare waren nach hinten gekämmt, und er trug einen schwarzen Anzug mit schwarzer Weste, der ihm das Aussehen eines Totengräbers verlieh. Sein Gesichtwar ausdruckslos, aber eines war dennoch ganz klar: Er starrte Ricky unverhohlen an. Ihre Blicke trafen sich und Ricky fühlte sich plötzlich wie benebelt. Die Autos und Gebäude um ihn herum begannen zu verschwimmen. An ihre Stelle trat eine brodelnde, erdrückende Dunkelheit. Mit einiger Mühe wandte er seinen Blick von der Gestalt ab, schaute auf seine Füße und versuchte durchzuatmen. Als er seinen Kopf wieder hob, starrte ihn der Mann immer noch an.
    In einiger Entfernung hatten sich die Schüler, die Mr Watkins noch zuhörten, von Henry Havelocks Statue abgewandt und sich um die Nelson-Säule verteilt. Ricky sammelte seine Sachen auf und ging in ihre Richtung. Der große Mann folgte ihm. Ohne aufzublicken, gaben die ausländischen Studenten den Weg frei und bildeten eine Gasse, als ob sie seine Gegenwart spüren, ihn aber nicht sehen konnten. Ricky beschleunigte seinen Schritt.
    Der Totengräber bewegte sich langsam und bedächtig. Er schien keine Eile zu haben. Auf seinem Gesicht machte sich ein Grinsen breit, das etwas Raubtierhaftes hatte. Er schien von einer gräulichen, verschwommenen Aura umgeben und die Menschen gingen ihm wie Schlafwandler aus dem Weg. Wer war der Typ? Was wollte er von ihm?
    Ricky schielte über seine Schulter zurück, der Mann starrte in Richtung der Säule. Er folgte seinem Blick. Ein weiterer Totengräber. Der Mann war klein, hatte ein spitzes Gesicht und trug ebenfalls einen schwarzen Anzug. Er hatte eine Glatze und seinGesicht wurde von einer langen, schmalen Hakennase geprägt. Im Gegensatz zu seinem Kumpanen wirkte dieser Totengräber zappelig, hüpfte vor Aufregung auf und ab und murmelte vor sich hin. Als er den Jungen erblickte, fuhr er sich langsam mit dem Daumen über die Kehle, als wollte er sie durchschneiden.
    Ricky rief nach seinem Lehrer. »Mr Watkins! Hierher! Hilfe!«
    Doch seine Worte wurden vom Pfeifen des Windes und dem Rauschen der herabstürzenden Wasserfontänen verschluckt. Als die beiden Männer sich ihm von zwei Seiten näherten, zog er einen neben ihm stehenden Mann am Ärmel und rief: »Sir, bitte, Sir!«,
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