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Die Schattenwelt

Titel: Die Schattenwelt
Autoren: Tom Becker
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er ihm das antun? Er legte seine Hände trichterförmig um den Mund und rief »Ricky!«.
    Vor der ›St. Martins in the Field‹-Kirche stieg eine kleine Gruppe von Leuten in einen dunklen Lieferwagen, auf dessen Seite »Beerdigungsinstitut Humble &Skeet« zu lesen war. Einer von ihnen wirkte sehr wacklig auf den Beinen und die anderen mussten ihn stützen. Ein überaus großer Mann faltete sich hinter das Steuer auf den Fahrersitz und der Wagen fuhr davon. Hoch über ihren Köpfen hielt Lord Nelson still und teilnahmslos Wache.

1
    Am Ufer der Themse wurde gebaut und die Luft vibrierte vom Dröhnen der Bagger und dem durchdringenden Lärm der Presslufthammer. Männer mit Bauhelmen und fluoreszierenden Jacken stapften im Sand umher und riefen sich gegenseitig, mit trichterförmig um den Mund gelegten Händen, Kommandos zu. Schmale Kräne ragten wie Strohhalme in den Himmel. Derzeit sah das Gelände wie ein Schlachtfeld aus, übersät mit Löchern und Geröll, aber in ein paar Monaten oder vielleicht einem Jahr würde sich an dieser Stelle ein weiteres Hochhaus stolz in den Himmel recken. Es war, als böte die Erde der Stadt nicht mehr genügend Platz, um sich weiter ausbreiten zu können, und als versuchte man, eine neue Zivilisation hoch oben am Himmel zu erschaffen.
    Jonathan Starling lehnte am Geländer und beobachtete die Männer bei der Arbeit. Seine Jacke wehte in einer leichten Brise. Er war ein schlaksiger Vierzehnjähriger mit strubbeligem braunem Haar, das in alle möglichen und unmöglichen Richtungen abstand. In seinen grauen Augen lag ein gehetzter Ausdruck, und jede seiner Bewegungen brachte unmissverständlichden Wunsch zum Ausdruck, in Ruhe gelassen zu werden. Die unter seiner Jacke verborgene Schuluniform war eine Nummer zu klein und schien seine Bewegungsfreiheit auf unangenehme Weise einzuengen.
    So hätte ihn ein Fremder beschrieben, aber wenn man die Menschen, die Jonathan kannten, gefragt hätte, wie er aussah, so hätten sie vergeblich um eine Antwort gerungen. Sie hätten vielleicht unwillkürlich die Stirn gerunzelt oder mit den Schultern gezuckt, denn er war nicht die Art von Mensch, dem andere viel Beachtung schenkten. Hätte man andererseits Jonathan selbst gefragt, wie er aussah, so hätte er ebenfalls keine passende Antwort geben können. Er hatte seit Jahren in keinen Spiegel geblickt.
    Die Fähigkeit, der Aufmerksamkeit anderer zu entfliehen – ihrem Blickfeld zu entschwinden –, hatte sich im Laufe der Jahre als nützlich erwiesen. Sie hatte es ihm ermöglicht, sich aus der Schule davonzustehlen, ohne dass sein Vater davon in Kenntnis gesetzt wurde oder Lehrer misstrauisch wurden und Nachforschungen anstellten. Wie ein Geist schlüpfte er durch das Eingangstor und verschwand. Während er eigentlich in einer Chemie-Stunde dösen oder sich halbherzig über den Sportplatz schleppen sollte, wanderte er lieber auf der Suche nach etwas Abwechslung durch die Straßen Londons. Er erforschte die verschlungenen Gassen im Stadtteil Soho, lenkte seine Schritte durch das Gewirr moosbewachsener Gräber auf dem Highgate-Friedhof und ließ hoch oben vomAlexandra-Platz den Blick über seine Stadt schweifen, die sich wie ein großer Ameisenhaufen zu seinen Füßen ausdehnte.
    Jonathan kam allerdings nicht immer ungeschoren davon. Mitarbeiter des Ordnungsamtes und Polizisten durchkämmten die Straßen auf der Suche nach schwänzenden Schülern und besonders aufmerksame Lehrer bemerkten seinen verwaisten Stuhl im Klassenzimmer. Ab und zu fand er sich im Büro der Direktorin wieder, wo er still dasaß, während sie traurig den Kopf schüttelte und anspornende Ansprachen an ihn richtete. Er hatte bereits mehrere Verweise bekommen und hatte nun eine letzte Chance erhalten. Wenigstens gab es Zuhause deswegen nie Ärger. Die Lehrer hatten mehrfach versucht, einen Termin mit seinem Vater zu vereinbaren, und Jonathan war stets bemüht, ihnen eine ablehnende – aber überzeugende – Antwort zukommen zu lassen. Manchmal erzählte er ihnen, dass sein Vater zu krank sei, um sie zu besuchen, und gelegentlich entsprach dies sogar der Wahrheit.
    An diesem Tag erschien Jonathan die Aussicht auf eine Doppelstunde Mathe einfach unerträglich und er war während der Mittagspause zur Hintertür hinausgeschlüpft. Als er die London Bridge überquerte, fiel sein Blick auf die glitzernden Glasfassaden des riesigen Canary-Wharf-Bürokomplexes. Er nahm die U-Bahn, um dorthin zu fahren, und achtete darauf, dass er von
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